Emin Alper

Abluka – Jeder misstraut jedem

Der Ex-Häftling und Polizei-Spitzel Kadir (Mehmet Özgür) erwartet seine Strafe. Foto: Grandfilm Verleih
(Kinostart: 7.9.) Dystopie mit arg beschränkten Mitteln: Der bemühte Polit-Thriller von Regisseur Emin Alper über die Türkei als Polizeistaat krankt an zäher Handlung, mäßigen Schauspielern und flachen Dialogen – darüber lächelt das Erdogan-Regime nur.

Für solche Stoffe hält Feuilletonisten-Deutsch die Formel von der „kafkaesken Parabel“ bereit. Kafkaeske Parabeln kennen auch Menschen, die noch nie eine Zeile von Franz Kafka gelesen haben. Sie spielen zu ungenannter Zeit an einem unbestimmten Ort, der aber durchaus vertraut wirkt. Die Figuren werden zu seltsamen Handlungen genötigt, die zweckfrei und absurd erscheinen. Bald überkommen sie Verzweiflung oder Paranoia; am Ende lauern Tod oder Wahnsinn.

 

Info

 

Abluka -
Jeder misstraut jedem

 

Regie: Emin Alper,

119 Min., Türkei 2015;

mit: Mehmet Özgür, Berkay Ateş, Tülin Özen

 

Website zum Film

 

Letzteren trägt der türkische Film „Abluka“ schon im Titel. Um jeden Zweifel zu beseitigen, welche Form von Wahn gemeint ist, hängt sein deutscher Verleih noch den Untertitel „Jeder misstraut jedem“ an. Damit ist im Grunde schon alles gesagt. Der ganze Film bietet eine zweistündige Veranschaulichung seines Namens – leider kaum mehr als das.

 

In Mülltonnen nach Bomben suchen

 

Kadir (Mehmet Özgür) wird nach 20 Jahren Gefängnis vorzeitig aus der Haft entlassen – um freizukommen, muss er sich bei Polizeichef Hamza (Müfit Kayacan) als Spitzel verpflichten. Seine Aufgabe: Getarnt als Altstoffsammler, soll er die Müllcontainer in seinem schäbigen Vorort von Istanbul nach verdächtigen Objekten durchsuchen, die zum Bombenbau taugen könnten.

Offizieller Filmtrailer


 

Nur Paramilitärs + Arme auf den Straßen

 

Die Türkei hat sich offenbar in einen Polizeistaat verwandelt: Außer gepanzerten Fahrzeugen mit schwer bewaffneten Paramilitärs und abgerissenen gecekondu-Bewohnern, die auf dem Flohmarkt ihre Habseligkeiten verhökern, ist auf den Straßen niemand zu sehen. Stattdessen häufen sich Anzeichen für Unruhen: Mal brennen die Mülltonnen, dann sind Schusswechsel oder dumpfe Detonationen zu hören. Das Fernsehen berichtet laufend von Terroranschlägen.

 

Kadir kümmert sich aber erstmal um seine Verwandtschaft. Sein jüngster Bruder Ahmet (Berkay Ateş) erkennt ihn kaum; er war noch halbwüchsig, als Kadir im Knast verschwand. Im Auftrag der Stadtverwaltung erschießt Ahmet streunende Hunde; ansonsten verlässt er kaum noch die Wohnung, seitdem ihn seine Frau verließ und die gemeinsamen Kinder mitnahm.

 

Vierbeiner als Pflege-Patient

 

Dann sind da noch Cousin Ali und dessen Frau Meral (Tülin Özen), die Kadir bekocht und seine Gesellschaft schätzt. Um diese überschaubaren Familienverhältnisse zu entfalten, lässt sich Regisseur Emin Alper eine volle Stunde Zeit. Dann setzt er die Handlung langsam in Bewegung: Ahmet nimmt einen angeschossenen Vierbeiner bei sich auf und päppelt ihn mit einer Inbrunst auf, an der alle Hundeliebhaber ihre Freude haben werden. Zugleich verschanzt er sich aus Angst, man könne ihn bei seinem Arbeitgeber anschwärzen.

 

Der überall herumschnüffelnde Kadir fürchtet, Terroristen hätten Meral und seinen Bruder als Geiseln genommen. Er überredet Hamza, dessen Wohnung von der Polizei stürmen zu lassen – was mit vorhersehbarem Blutzoll endet. Wer hier wen umlegt oder sich das im Verfolgungswahn nur einbildet, ist da schon längst unerheblich geworden.

 

Schauspieler der Stummfilmzeit

 

Auch dank sehr begrenzter Ressourcen: Der ganze Film spielt mit fünf Darstellern und einem Dutzend Statisten zwischen ein paar Straßenkreuzungen. Seine beschränkten Mittel versucht Regisseur Alper auszugleichen, in dem er jede Szene auf maximale Länge dehnt und streckt.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Promise - Die Erinnerung bleibt" – aufwändiges Kino-Epos über den türkischen Genozid an Armeniern von Terry George

 

und hier eine Besprechung des Films "Winterschlaf" – brillantes türkisches Intellektuellen-Drama von Nuri Bilge Ceylan, prämiert mit der Goldenen Palme 2014

 

und hier einen Bericht über den Film "Once upon a time in Anatolia" – perfektes Roadmovie als Total-Panorama der Türkei von Nuri Bilge Ceylan

 

und hier einen Beitrag über den Film Labirent -  realistischer Terroristen-Thriller aus der Türkei von Tolga Örnek.

 

Natürlich ist es möglich, einen fesselnden Polit-Psychothriller als Kammerspiel in zwei Wohnungen zu drehen. Aber nicht mit Hauptdarstellern wie Özgür und Ateş, deren lautloses Entsetzen mit weit aufgerissenen Augen in der Stummfilmzeit höchst beeindruckend gewirkt hätte. Und nicht mit Dialogen, die wortreich auswalzen, was ohnehin unübersehbar ist. Die Verfolgung streunender Hunde als Metapher für den Umgang mit Minderheiten hat zudem der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó schon 2014 in „Underdog“ wesentlich überzeugender umgesetzt.

 

Weder Güney noch Ceylan

 

Dass diese bemühte Fingerübung beim Festival in Venedig 2015 den Spezialpreis der Jury erhielt, lässt sich wohl nur mit einer allgemeinen Erwartungshaltung erklären. Das Autorenkino hofft auf den großen Anti-Erdogan-Film, der mit dessen Umbau der Türkei in ein autoritäres Präsidialregime abrechnet.

 

So, wie der kurdische Regisseur Yilmaz Güney 1982 in „Yol – Der Weg“ mit der damaligen Militärdiktatur abrechnete; sein Meisterwerk erhielt in Cannes die Goldene Palme. Oder wie heutige Filme von Nuri Bilge Ceylan, der bestechend subtil die Defizite der türkischen Gesellschaft bloßlegt.

 

Noch eine Verschwörungstheorie

 

Daran reicht „Abluka“ nicht ansatzweise heran. Tragische Geschichte wiederholt sich als Farce: Fast könnte man meinen, das AKP-Regime habe diesen Film in Auftrag gegeben, um zu demonstrieren, wie lächerlich die Darstellung der heutigen Türkei als Polizeistaat sei. Doch das wäre auch nur eine der an den Haaren herbeigezogenen Verschwörungstheorien, denen die Film-Protagonisten anhängen.