
Für solche Stoffe hält Feuilletonisten-Deutsch die Formel von der „kafkaesken Parabel“ bereit. Kafkaeske Parabeln kennen auch Menschen, die noch nie eine Zeile von Franz Kafka gelesen haben. Sie spielen zu ungenannter Zeit an einem unbestimmten Ort, der aber durchaus vertraut wirkt. Die Figuren werden zu seltsamen Handlungen genötigt, die zweckfrei und absurd erscheinen. Bald überkommen sie Verzweiflung oder Paranoia; am Ende lauern Tod oder Wahnsinn.
Info
Abluka -
Jeder misstraut jedem
Regie: Emin Alper,
119 Min., Türkei 2015;
mit: Mehmet Özgür, Berkay Ateş, Tülin Özen
In Mülltonnen nach Bomben suchen
Kadir (Mehmet Özgür) wird nach 20 Jahren Gefängnis vorzeitig aus der Haft entlassen – um freizukommen, muss er sich bei Polizeichef Hamza (Müfit Kayacan) als Spitzel verpflichten. Seine Aufgabe: Getarnt als Altstoffsammler, soll er die Müllcontainer in seinem schäbigen Vorort von Istanbul nach verdächtigen Objekten durchsuchen, die zum Bombenbau taugen könnten.
Offizieller Filmtrailer
Nur Paramilitärs + Arme auf den Straßen
Die Türkei hat sich offenbar in einen Polizeistaat verwandelt: Außer gepanzerten Fahrzeugen mit schwer bewaffneten Paramilitärs und abgerissenen gecekondu-Bewohnern, die auf dem Flohmarkt ihre Habseligkeiten verhökern, ist auf den Straßen niemand zu sehen. Stattdessen häufen sich Anzeichen für Unruhen: Mal brennen die Mülltonnen, dann sind Schusswechsel oder dumpfe Detonationen zu hören. Das Fernsehen berichtet laufend von Terroranschlägen.
Kadir kümmert sich aber erstmal um seine Verwandtschaft. Sein jüngster Bruder Ahmet (Berkay Ateş) erkennt ihn kaum; er war noch halbwüchsig, als Kadir im Knast verschwand. Im Auftrag der Stadtverwaltung erschießt Ahmet streunende Hunde; ansonsten verlässt er kaum noch die Wohnung, seitdem ihn seine Frau verließ und die gemeinsamen Kinder mitnahm.
Vierbeiner als Pflege-Patient
Dann sind da noch Cousin Ali und dessen Frau Meral (Tülin Özen), die Kadir bekocht und seine Gesellschaft schätzt. Um diese überschaubaren Familienverhältnisse zu entfalten, lässt sich Regisseur Emin Alper eine volle Stunde Zeit. Dann setzt er die Handlung langsam in Bewegung: Ahmet nimmt einen angeschossenen Vierbeiner bei sich auf und päppelt ihn mit einer Inbrunst auf, an der alle Hundeliebhaber ihre Freude haben werden. Zugleich verschanzt er sich aus Angst, man könne ihn bei seinem Arbeitgeber anschwärzen.
Der überall herumschnüffelnde Kadir fürchtet, Terroristen hätten Meral und seinen Bruder als Geiseln genommen. Er überredet Hamza, dessen Wohnung von der Polizei stürmen zu lassen – was mit vorhersehbarem Blutzoll endet. Wer hier wen umlegt oder sich das im Verfolgungswahn nur einbildet, ist da schon längst unerheblich geworden.
Schauspieler der Stummfilmzeit
Auch dank sehr begrenzter Ressourcen: Der ganze Film spielt mit fünf Darstellern und einem Dutzend Statisten zwischen ein paar Straßenkreuzungen. Seine beschränkten Mittel versucht Regisseur Alper auszugleichen, in dem er jede Szene auf maximale Länge dehnt und streckt.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Promise - Die Erinnerung bleibt" – aufwändiges Kino-Epos über den türkischen Genozid an Armeniern von Terry George
und hier eine Besprechung des Films "Winterschlaf" – brillantes türkisches Intellektuellen-Drama von Nuri Bilge Ceylan, prämiert mit der Goldenen Palme 2014
und hier einen Bericht über den Film "Once upon a time in Anatolia" – perfektes Roadmovie als Total-Panorama der Türkei von Nuri Bilge Ceylan
und hier einen Beitrag über den Film “Labirent” - realistischer Terroristen-Thriller aus der Türkei von Tolga Örnek.
Weder Güney noch Ceylan
Dass diese bemühte Fingerübung beim Festival in Venedig 2015 den Spezialpreis der Jury erhielt, lässt sich wohl nur mit einer allgemeinen Erwartungshaltung erklären. Das Autorenkino hofft auf den großen Anti-Erdogan-Film, der mit dessen Umbau der Türkei in ein autoritäres Präsidialregime abrechnet.
So, wie der kurdische Regisseur Yilmaz Güney 1982 in „Yol – Der Weg“ mit der damaligen Militärdiktatur abrechnete; sein Meisterwerk erhielt in Cannes die Goldene Palme. Oder wie heutige Filme von Nuri Bilge Ceylan, der bestechend subtil die Defizite der türkischen Gesellschaft bloßlegt.
Noch eine Verschwörungstheorie
Daran reicht „Abluka“ nicht ansatzweise heran. Tragische Geschichte wiederholt sich als Farce: Fast könnte man meinen, das AKP-Regime habe diesen Film in Auftrag gegeben, um zu demonstrieren, wie lächerlich die Darstellung der heutigen Türkei als Polizeistaat sei. Doch das wäre auch nur eine der an den Haaren herbeigezogenen Verschwörungstheorien, denen die Film-Protagonisten anhängen.