Keiner hat etwas gewusst, und jetzt sind sie da: eine ganze Busladung voller Flüchtlinge, Männer, Frauen und Kinder. Sie sind gekommen, um zu bleiben, sogar Gepäck haben sie dabei. Die Leute im Dorf sind verärgert, die Stimmung ist gereizt. Es dauert nicht lang, dann eskaliert die Situation – bis die Fotokamera der jungen Syrerin Yara (Ebla Mari) auf dem harten Straßenpflaster zerschellt.
Info
The Old Oak
Regie: Ken Loach,
113 Min., Großbritannien/ Frankreich 2023;
mit: Dave Turner, Ebla Mari, Claire Rodgerson u.a.
Weitere Informationen zum Film
Jahr Null des Brexit
Das ist die Ausgangslage von Ken Loachs Film, der im Jahr 2016 spielt – dem Jahr Null des Brexit. Im Juni stimmten 51,89 Prozent in einem Referendum für den Austritt Großbritanniens aus der EU, der 2020 vollzogen werden sollte. Doch schon jetzt sind die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse im ganzen Land prekär. Und es scheint, als hätte jene Zeit auch in Ken Loach noch einmal einen energischen Sturm der Empörung entfacht.
Offizieller Filmtrailer
Von der Komplexität der Umstände
Eigentlich wollte sich der britische Regisseur bereits 2014 aus dem Filmgeschäft zurückziehen. Dann drehte er zwei Jahre später mit dem Cannes-Gewinner „I, Daniel Blake“ eines seiner erfolgreichsten Werke überhaupt. Darin ging es um die Unzulänglichkeiten im britischen Sozialleistungssystem. 2019 folgte „Sorry We Missed You“ über einen überarbeiteten Kurierfahrer aus Newcastle – und spätestens da war klar, dass Loach so schnell wohl doch nicht zur Ruhe kommt.
In „The Old Oak“ widmen er und sein Stamm-Drehbuchschreiber Paul Laverty sich nun der aktuellen Flüchtlingssituation und dem Gefühl latenter Ungerechtigkeit, das die Briten umtreibt. Eine berührende Szene zu Beginn bringt die komplexen Umstände auf den Punkt: Als die örtliche Sozialarbeiterin (Claire Rodgerson) mit einem gebrauchten Fahrrad für eines der syrischen Kinder auftaucht, seufzt ein kleiner englischer Junge aus dem Ort: „So eins hätte ich auch gern.“
Zwei gegen das ganze Dorf
Der genügsame Kneipenbesitzer TJ hält sich derweil aus dem Gerede seiner aufgebrachten Gäste heraus, so gut es geht. Stattdessen freundet er sich mit Yara an, deren Vater vom Assad-Regime inhaftiert wurde und der seitdem verschwunden ist. Die Kamera, die sie stets bei sich trägt, ist ein Geschenk von ihm.
TJ hört der jungen Frau zu, er hilft ihr, wo und wie er kann, und weiht sie anhand alter Fotos in die Geschichte des Ortes ein. Daraufhin schmieden sie gemeinsam einen Plan, um auch den anderen Neuankömmlingen bei der Integration zu helfen. Doch kaum ist die Initiative in vollem Gang, steckt TJ mittendrin im Dilemma: Er hat zu spät erkannt, dass er sich mit seiner Gastfreundschaft gegen den Rest des Dorfes stellt.
Idealismus statt Ironie
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Sorry we missed you" – eindrucksvolles Sozialdrama über Ausbeutung eines Paketzustellers von Ken Loach
und hier eine Besprechung des Films "Ich, Daniel Blake" – eindrucksvolles Drama über kafkaeske Sozial-Bürokratie von Ken Loach, prämiert mit der Goldenen Palme 2016
und hier einen Beitrag über den Film "Jimmy’s Hall" – Klassenkampf-Drama im Irland der 1930er Jahre von Ken Loach
und hier einen Bericht über den Film "Angels’ Share – Ein Schluck für die Engel" – feuchtfröhliche Whisky-Komödie von Ken Loach.
Dafür setzt er auf Mitgefühl. Loach hat noch nie davor zurückgeschreckt, Emotionen für seine politischen Botschaften zu nutzen. Und auch „The Old Oak“ wird von Empathie für die Unterdrückten und von ungebrochenem Idealismus angetrieben. Vor allem in der Schlussszene trägt Loach allerdings zu dick auf: Als bekannt wird, dass Yaras Vater nicht mehr am Leben ist, versammelt sich die Dorfgemeinschaft vor dem Haus der Familie und zeigt geschlossen Anteilnahme.
Ode an die Hoffnung
Dass es ihm an Eleganz und Raffinesse fehlt, stört Loach nicht. Die Unebenheiten im Drehbuch sind jederzeit spürbar. Wunderbar realitätsnahe Szenen wechseln sich mit hölzernen Dialogen ab. Über etwaige Mängel an der Ausdruckskraft seiner Laiendarsteller sieht der Regisseur gelassen hinweg. Es mag Altersmilde, Sentimentalität oder eine gewisse Naivität dahinter stecken. Doch allein der Wunsch, Zuversicht und Optimismus zu verbreiten, macht noch keinen großen Film.
Immerhin – der Traum von Solidarität und Nächstenliebe vermag zu berühren. Es ist Loach hoch anzurechnen, dass er ohne Zynismus auf das Leben und die Verhältnisse in seinem Land schaut. Sollte „The Old Oak“, wie Loach unlängst erklärt hat, tatsächlich seine letzte Regiearbeit sein, hat er ans Ende seines Schaffens zumindest eine bewegende Ode an die Hoffnung gestellt.