Margherita Vicario

Gloria!

Die kuriose neue „Musikmaschine“ im Keller will erprobt werden: Flink gleiten Teresas (Galatéa Bellugi) Hände über die Tasten des Pianoforte. © Neue Visionen Filmverleih
(Kinostart: 29.8.) Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf: Um 1800 entdecken Musikerinnen im venezianischen Waisenhaus nachts am Klavier neue Klangwelten. Ihr Historien-Märchen von weiblicher Selbstbefreiung durch Musik inszeniert Regisseurin Margherita Vicario beschwingt wie eine gelungene Jam-Session.

Die Welt ist Klang: das Flattern der Wäsche im Wind, das Kratzen des Besens auf Boden, das Klappern von Geschirr – solche Töne setzen sich im Kopf von Teresa (Galatéa Bellugi) zu Melodien und Rhythmen zusammen. Von ihrer hochmusikalischen Begabung weiß aber niemand. Seit einem traumatisierenden Schock ist sie verstummt; im venezianischen Waisenhaus, in dem sie um 1800 lebt, muss sie tagaus, tagein als Dienstmagd schuften.

 

Info

 

Gloria!

 

Regie: Margherita Vicario,

106 Min., Italien/ Schweiz 2024;

mit: Galatéa Bellugi, Carlotta Gamba, Veronica Lucchesi

 

Weitere Informationen zum Film

 

Zumindest das bleibt Lucia (Carlotta Gamba) und ihren Freundinnen erspart. Doch als mehr oder weniger höhere Töchter, deren Eltern starben oder die sie hierher abgeschoben haben, dürfen sie die kleine Insel Sant’Ignazio, auf der das Kollegium steht, nicht verlassen. Stattdessen spielen sie von früh bis spät ihre Instrumente oder üben Gesangspartien ein: Als gut ausgebildete Musikerinnen und Sängerinnen werden sie bei Gottesdiensten und Kirchenkonzerten eingesetzt. Die ambitionierte Lucia komponiert sogar eigene Stücke.

 

Pianoforte durchbricht Monotonie

 

Ansonsten verläuft ihr Leben unter der Fuchtel einer strengen Direktorin und des griesgrämigen Kapellmeisters Perlina (Paolo Rossi) sehr eintönig. Bis eines Tages ein geheimnisvoller Kasten eintrifft, dessen Inhalt Teresa im Keller entdeckt: ein Pianoforte, damals eine seltene Neuheit, gespendet vom berühmten Instrumentenbauer Johann Andreas Stein. Eigentlich als Geschenk für die musizierenden Mädchen des Waisenhauses bestimmt, doch Perlina schafft es eilends beiseite.

Offizieller Filmtrailer


 

Tohuwabohu durch Papst-Besuch

 

Allabendlich schleicht nun Teresa in den Keller, um ihre musikalischen Ideen auf der Klavier-Tastatur auszuprobieren. Bald wird sie dabei von Lucia und ihren Gefährtinnen entdeckt. Anfängliche Rivalität weicht vergnügtem gemeinsamen Musizieren, wobei sich die Mädchen auf unbekanntes Terrain vorwagen: Da erklingen Jazz-Phrasierungen ebenso wie Latino-Rhythmen oder poetische Lieder im Stil heutiger italienischer cantautori.

 

Ihre nächtliche Spielfreude könnte endlos fortdauern, würde nicht die Außenwelt dazwischenfunken. Papst Pius VII. will dem Waisenhaus einen Besuch abstatten, ihm zu Ehren soll Perlina ein Konzert komponieren. Was dem Kapellmeister nicht gelingt, so dass er das Klavier verpfändet, um an frische Noten heranzukommen; ein Hilfs-Angebot von Lucia lehnt er brüsk ab. Kurz darauf lässt ihr heimlicher Verehrer Luigi sie fallen, anstatt sie aus dem Waisenhaus herauszuheiraten, während Teresa sich dagegen wehrt, von Perlina an einen reichen Witwer zwangsverehelicht zu werden. De Profundis: Kein Wunder, dass bei der Papst-Visite alles aus dem Ruder läuft.

 

Ospedali + Figlie di coro als Vorbilder

 

Musik als Medium weiblicher Rebellion und Befreiung: Das schmückt Regisseurin Margherita Vicario am Ende etwas zu bunt aus, um wahr zu erscheinen. Dennoch hat ihre Selbstermächtigungs-Story einen realen historischen Hintergrund. Im 18. Jahrhundert gab es in Venedig vier Ospedali (Waisenhäuser), deren Zöglinge als Figlie di coro (Chorsängerinnen) musikalisch ausgebildet wurden; an einem davon unterrichtete Antonio Vivaldi (1678-1741). Sie gelten als Vorläufer der heutigen Konservatorien, doch Namen und Lebensläufe ihrer Bewohnerinnen sind nahezu unbekannt.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Licht" – bildgewaltiges Historien-Drama über eine blinde Pianistin im 18. Jahrhundert von Barbara Albert

 

und hier eine Besprechung des Films "Das Mädchen, das lesen konnte" – eindrucksvoller Historienfilm über ein dörfliches Matriarchat in Frankreich um 1850 von Marine Francen

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Venezia 500<< – Die sanfte Revolution der venezianischen Malerei" – umfassender Epochen-Überblick in der Alten Pinakothek, München

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Tiepolo – Der beste Maler Venedigs" – große Werkschau des bedeutendsten Künstlers des 18. Jahrhunderts in der Staatsgalerie Stuttgart.

 

Mit einer Ausnahme: Maddalena Sirmen (1745-1818). Nach ihrem Violinunterricht am „Ospedale dei Medicanti“ wurde ihr erlaubt, den Geiger Lodovico Sirmen zu heiraten – von dem sie sich danach rasch trennte, um auf Konzerttourneen zu gehen. Ihre sechs selbst komponierten Streichquartette gelten als wegweisend; an ihr Vorbild ist die Filmfigur von Lucia angelehnt. Der Instrumentenbauer Johann Andreas Stein stellte Klaviere her, die selbst Mozart spielte und lobte. Und Pius VII. wurde 1800, da Napoleons Truppen Italien besetzt hatten, nicht in Rom, sondern in Venedig zum Papst gewählt.

 

Geschickter Mix aus Realem + Fiktivem

 

Gleichviel: Regisseurin Margherita Vicario glückt es, in die tatsächlichen Umstände so geschickt ihre fiktiven Protagonisten und die tollkühne Handlung einzubetten, dass unwichtig wird, was echt und was erfunden ist. Stattdessen beeindrucken Einblicke in unbekannte Lebenswelten: Seit dem Mittelalter unterhielt die Kirche europaweit Armen-, Kranken- und eben auch Waisenhäuser – doch wie es dort zuging, kommt ansonsten in Historienfilmen praktisch nie vor. Noch weniger Szenen aus dem Musikleben vergangener Zeiten.

 

Dabei dürfte Vicario zugute kommen, dass sie selbst ausgebildete Musikerin ist und schon mehrere Platten veröffentlicht hat: Wenn die Mädchen im Keller am Piano improvisieren, sind diese Einstellungen so mitreißend wie gelungene Jam-Sessions. Und wer weiß, was vor der Erfindung von Tonträgern so alles intoniert wurde: Vielleicht haben wirklich experimentierfreudige Musiker vor 200 Jahren ein paar Jazz-Synkopen geklimpert?