Ishan Shukla

Schirkoa: In Lies We Trust

Das älteste Gewerbe der Welt ist auch in Schirkoa nicht ausgestorben: Anbahnungsgespräch im Rotlichtbezirk. Foto: Rapid Eye Movies
(Filmstart: 29.8.) Papiertüten überm Kopf als erste Bürgerpflicht: Die Animationsfilm-Dystopie von Regisseur Ishan Shukla erscheint wie George Orwells „1984“ für das Digitalzeitalter. Leider erzählen die beeindruckenden Bilder und Szenen keine kohärente Geschichte, sondern verlieren sich in Anspielungen.

Im totalitär regierten Stadtstaat Schirkoa ist der Mann mit dem Namen 197A ein Musterbürger. Dabei unterscheidet er sich äußerlich nicht von den anderen. Wie für alle Bürger vorgeschrieben trägt er in allen Lebenslagen eine Papiertüte über dem Kopf. Dank seines vorbildlichen Verhaltens hat er sich zudem für eine politische Karriere qualifiziert: Überall in der Stadt, die in ihrer monotonen Neo-Noir-Ästhetik wie eine schäbige Variante von Gotham City – Heimstatt und Wirkungskreis von Batman – erscheint, hängen Plakate, die ihn zur Wahl empfehlen.

 

Info

 

Schirkoa: In Lies We Trust

 

Regie: Ishan Shukla,

103 Min., Indien/ Frankreich/ Deutschland 2024;

mit den Stimmen von: Golshifteh Farahani, Asia Argento, Gaspar Noé, Lav Diaz

 

Weitere Informationen zum Film

 

Die Wahl ist natürlich eine Farce. Denn erstens herrscht in Schirkoa eine Diktatur, und überdies droht die Stadt im Chaos zu versinken. Gerüchte über so genannte Anomalis sorgen für Unruhe. Sie sollen von außen kommen und angeblich die Stabilität des Staats untergraben. Während ein Teil der Bewohner sich von Hysterie anstecken lässt, wittern andere die Chance auf Freiheit. Auch in 197A erwachen neue Gefühle.

 

Belehrungen über Selbstmord

 

Denn erstens ist seine Freundin 242B von seiner Zukunft als Teil des Machtapparats gar nicht angetan ist. Zum anderen entwickelt er plötzlich Suizid-Phantasien, die ihn auf das Dach eines Hochhauses treiben. Dort trifft er auf eine Frau ohne Kopftüte. Sie will sich das Leben nehmen, doch der gewissenhafte 197A empfiehlt ihr, vorher die Tüte wieder aufzusetzen. Dann erläutert er die Vor- und Nachteile verschiedener Sprungtechniken, damit ihr Ableben möglichst ästhetisch und schmerzfrei ausfällt.

Offizieller Filmtrailer, OmU


 

Zwei Städte, zwei Gesellschaften

 

Das klingt nicht nach dem Beginn eines Flirts, doch anstatt sich umzubringen, verbringen beide eine leidenschaftliche Nacht miteinander. Am nächsten Tag wird die Frau zur öffentlichen Hinrichtung abgeführt. 197A selbst entdeckt plötzlich kleine Hörner auf seinem Kopf. Er ist zum Anomali geworden, und so entscheidet er sich, wie viele andere, zur Flucht ins benachbarte Konthaqa. Hier finden Anomalis wie er eine Heimat. Die neuen  Körperteile, die ihnen wachsen. lassen sich als Ausdruck von Freiheitswillen oder Widerstandsgeist deuten: Flügel, Hörner oder auch Flossen.

 

Das Leben an diesem überdrehten, bunten Ort erinnert an das Chaos einer Millionenstadt in Südasien. Gleichzeitig fühlt man sich auf eine genderfluide, hedonistische Party in einer westlichen Metropole versetzt – ein schräger Mix. Doch auch hier herrschen keineswegs ideale Verhältnisse. Die Anführerin der Gemeinschaft, Lies genannt, erklärt dem Neuankömmling, dass die individualistische Alternativgesellschaft nur funktioniert, weil sie gegen die Kopftüten-Diktatur rebelliere. Das allein sorge für Zusammenhalt.

 

Zivilisationskritik, die alles in Frage stellt

 

Dabei blickt die Kommandantin mit der Schwanzflosse durchaus zynisch auf Konthaqa. Tatsächlich ist die Verehrung, die ihr entgegenschlägt, einer egalitären Gesellschaft unwürdig. Und es gibt Ärger im Paradies: Auf einer Versammlung, auf der 197A landet, fallen plötzlich Schüsse, und es kommt zu einem Blutbad. Deren Hintergrund erschließt sich in der zunehmend unübersichtlichen Geschichte jedoch nicht; oft kann der Zuschauer über die Zusammenhänge nur spekulieren.

 

Überdies verweigert Regisseur und Drehbuchautor Ishan Shukla klugerweise, seinen Animationsfilm politisch zu positionieren. Stattdessen versucht er sich an einer dystopischen Zivilisationskritik, deren Ansatz, alles in Frage zu stellen, allerdings irritierend relativistisch erscheint. Will er wirklich vermitteln, der Mensch sei eine grundsätzlich gewalttätige Bestie und unfähig, mit Freiheit konstruktiv umzugehen? Das legt zumindest das rätselhafte Ende nah, an dem 197A scheinbar zufrieden nach Schirkoa in sein früheres Leben zurückgekehrt ist.  

 

Prominente Stimmen für animierte Figuren

 

Um Shuklas Absichten besser zu verstehen, müsste man den diversen pseudophilosophischen Einschüben nachgehen, die den Film spicken, aber wenig erhellen. Die meisten Zuschauer dürften sowieso schnell aus der Handlung aussteigen, weil sie weder einen Erzählfluss noch einen Spannungsbogen hat. Für Humor sorgt das prominente internationale Ensemble, die den Figuren ihre Stimmen leiht. So stößt die italienische Schauspielerin und Regisseurin Asia Argento als Lies derbe Flüche aus; der philippinische Autorenfilmer Lav Diaz rezitiert bedeutungsschwangere Gedichte auf Tagalog.

 

Die Schauspielerin Golshifteh Farahani spricht für 197As kritische Freundin 242B, wobei die Kunst hier das Leben imitiert: Die Iranerin verließ 2009 nach Konflikten mit dem Regime ihre Heimat. Immerhin kann man sich gerade in der zweiten Hälfte des Films an immer bunteren Welten erfreuen. Das meiste ist dabei in 3D animiert, lediglich die offiziellen Propagandasendungen, die in Schirkoa dauernd zu sehen sind, bleiben zweidimensional.

 

Vom Kurz- zum Langfilm

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Congress"  – Science-Fiction-Animations-Dystopie von Ari Folman nach dem Roman von Stanislaw Lem

 

und hier eine Besprechung des Films "The Zero Theorem – Das Leben passiert jedem" – sarkastisch verspielte SciFi-Groteske über Computer-Nerd von Terry Gilliam mit Christoph Waltz

 

und hier einen Beitrag über den Film "Alois Nebel" – beeindruckender tschechischer Historien-Animationsfilm in Schwarzweiß von Tomáš Luňák + Jaroslav Rudiš, prämiert mit dem Europäischen Filmpreis 2012.

 

Produziert wurden die 3D-Animationen mit einer so genannten Unreal Engine. Diese Technologie stammt aus der Welt der Computerspiele, wird aber verstärkt auch bei Filmproduktionen eingesetzt. Dabei bewegen sich die Figuren zwar etwas ungelenk; dafür lassen sich fantastische Welten relativ kostengünstig realisieren. 

 

So eindrucksvoll die visuelle Ästhetik des Films daherkommt, so überfrachtet ist er inhaltlich: Immer neue Schauplätze und Konflikte sorgen nicht für Komplexität, sondern nur für verwirrende Hakenschläge in einem dünnen Plot. Das Ganze basiert auf Shuklas zwölfminütigen Kurzfilm „Schirkoa“ von 2016 (in Deutschland: „Tütenköpfe“), den er nun mit viel Liebe zum Detail und überbordendem Einfallsreichtum auf Spielfilmlänge aufgeblasen hat. 

 

Parabel auf verwirrende Gegenwart

 

Leider ist ihm dafür kein kohärentes Drehbuch gelungen. Mit etwas gutem Willen lässt sich der Film als Parabel auf eine zerfranste, verwirrende Gegenwart deuten, in der scheinbar gegensätzliche politische Konzepte verborgene Überschneidungen offenbaren. Jedoch verästelt sich der Film immer weiter beim Versuch, derartige Prozesse in eine fesselnde Geschichte zu verwandeln, bis er völlig ausfranst.