Artus

Was ist schon normal?

Marc (Marc Riso) leitet die Meditationsgruppe. Fotoquelle: © SquareOne Entertainment
(Kinostart: 5.9.) Das neue Normal: In seinem Debüt-Spielfilm schickt der französische Komiker Artus seine gehandicapte Bühnenfigur „Sylvain“ in ein Ferien-Abenteuer. Das authentische Laien-Ensemble aus körperlich und geistig Behinderten mit starken Persönlichkeiten sorgt dabei für mitunter derben Humor.

Die Darstellung behinderter Menschen galt lange als Gipfel der Schauspielkunst. Daniel Day Lewis, der in „Mein linker Fuß“ (1989) einen fast vollständig gelähmten Kunstmaler spielte, gewann damit seinen ersten von insgesamt drei Oscars. Mit „Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa“ (1993) startete Leonardo DiCaprio als einfältiger Teenager seine Karriere. Nicht zu vergessen der französische Kassenschlager „Ziemlich beste Freunde“ (2011) mit François Cluzet als Tetraplegiker und Omar Sy als seinem Betreuer.

 

Info

 

Was ist schon normal?

 

Regie: Artus,

99 Min., Frankreich 2024;

mit: Artus, Clovis Cornillac, Alice Belaïdi, Marc Riso

Weitere Informationen zum Film

 

Dass Filmrollen mit tatsächlich Gehandicapten besetzt werden, hat auch eine gewisse Tradition, aber selten kommerziellen Erfolg. Tod Brownings „Freaks“ (1932) blieb lange die berühmt-berüchtigte Ausnahme. Immerhin gewann die gehörlose Marlee Matlin 1987 einen Oscar als beste Hauptdarstellerin in „Gottes vergessene Kinder“.  Alireza Golafshans Achtungserfolg „Die Goldfische“ (2019) über eine Behinderten-WG kam nur in Deutschland ins Kino. Dagegen erlebte die spanische Produktion „Wir sind Champions“ (2018) über eine Basketballmannschaft mit diversen Handicaps im letzten Jahr ein US-Remake mit Woody Harrelson. Gut möglich, dass dies auch dem Regiedebüt des französischen Komikers Artus widerfährt: Es hat in Frankreich bisher zehn Millionen Zuschauer in die Kinos gelockt.

 

Getarnte Gangster auf Ferienfahrt

 

Dabei ist die Prämisse des Films nicht besonders innovativ: Zwei Gangster sind nach einem Raubüberfall auf der Flucht vor der Polizei und wollen bei einer Gruppe geistig Behinderter auf Ferienfahrt untertauchen. Das Vater-Sohn-Gespann nutzt den Umstand aus, dass die Gruppe noch einen Mitreisenden im Bus erwartet, von diesem aber nur den Namen kennt. So gibt sich Sohn Paulo (Artus) als „Sylvain“ aus, sein Vater (Clovis Cornillac) mimt seinen unabkömmlichen Begleiter „Orpi“. Sie werden Teil einer bunten Truppe aus allerhand speziellen jungen Menschen sowie einem Betreuer-Team aus zwei Frauen und einem Mann.

Offizieller Filmtrailer


 

Der Humor des Handicaps

 

Ziel der Reise ist eine abgelegene Berghütte; für unsere Gangster der ideale Ort, Gras über ihren Coup wachsen zu lassen. Zwar kommt die Reisegruppe im Gegensatz zu ihren überarbeiteten Betreuerinnen schnell dahinter, dass Paulo sich nur verstellt. Sie lassen ihn aber aus Sympathie gewähren. Denn der falsche Sylvain scheint ein Händchen im Umgang mit ihnen zu haben. Frei vom sonderpädagogischen Ballast der Profi-Betreuer bingt er neue Impulse ins Camp. Statt tibetische Mandalas auszumalen, spielen die Urlauber nun ganz normal Fußball.

 

Artus ist in Frankreich als Komiker bekannt, seine Figur des geistig etwas beschränkten Sylvain ist dort seit langem erfolgreich und auch bei Betroffenen beliebt. Wer schon einmal näher mit Behinderten zu tun hatte, weiß um deren mitunter derben, selbstironischen Humor, der hier selbstverständlich mit einfließt. Das sorgt ebenso für Authentizität wie die tatsächlich beeinträchtigten Darsteller, die nach einem Aufruf in den sozialen Medien einen langen Casting-Prozess durchliefen. Mit zwei Ausnahmen haben alle ihre eigenen Namen und Eigenarten behalten.

 

Starke Persönlichkeiten mit eigener Garderobe

 

So ist beispielsweise Arnaud (Arnaud Toutpense) im Film wie im echten Leben glühender Dalida-Fan. Auf seinem Unterarm prangt ein Konterfei der Sängerin, und es gibt auch Lieder von der Verehrten zu hören. Ludo (Ludovic Boul) nimmt beim Fluchen kein Blatt vor den Mund. Der als Wonder-Woman oder als Ketchup-Flasche kurios verkleidete Boris Petoëff trägt seine eigenen Kostüme, und auch die Damen Mayane (Mayane Sarah El Baze) und Marie (Marie Colin) steuern ihre private Garderobe bei.

 

Alle haben starke Persönlichkeiten, die Artus gut einzusetzen weiß. Er kreiert damit sowohl absurde als auch ernsthafte Situationen und findet dafür originelle, detailreiche Bilder. So offenbart ein Rundblick auf den Schlafsaal aus der Vogelperspektive das ganze Spektrum individueller Fan-Bettwäsche. Auch die schlecht bezahlte, aufopferungsvolle Arbeit der Betreuer bekommt eine subtile Würdigung.

 

Gelungene Inklusion im Film

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Rose – Eine unvergessliche Reise nach Paris" – sympathische Dramödie über eine Schizophrene auf Bus-Exkursion von Niels Arden Oplev

 

und hier eine Besprechung des Films "Die Überglücklichen" – originelles Porträt einer Frauenfreundschaft in der Psychiatrie von Paolo Virzì

 

und hier einen Bericht über den Film "Eleanor & Colette" – Psychiatrie-Drama über Patientenrechte einer Schizophrenen von Bille August

 

und hier einen Beitrag über den Film "Gabrielle – (K)eine ganz normale Liebe" über Sexualität + Liebe unter Behinderten von Louise Archambault.

 

Da ist es nicht schlimm, dass die Story etwas lahmt. Neben Paulos Emanzipation vom strengen Vater erblühen auch zwei Romanzen: zwischen Marie und Arnaud sowie zwischen Paulo und Betreuerin Alice (Alice Belaïdi). Dabei lebt der Film vom Enthusiasmus und der Lebensfreude der Protagonisten. Artus wollte nach eigener Aussage „keinen pathetischen Film für Nichtbehinderte über Menschen mit Behinderung machen, um daran zu erinnern, dass es behinderte Personen gibt.“ Sondern einen Film mit ihnen für sie und Nichtbehinderte gleichermaßen.

 

Das ist ihm definitiv gelungen und macht sicher einen Großteil des Erfolgs beim französischen Kinopublikum aus. Gleichzeitig reflektiert sein Film die eingangs erwähnte Schauspiel-Tradition, zu der ja auch seine eigene Bühnenfigur Sylvain gehört. Eine Behinderung zu spielen, bekommt in diesem Szenario schließlich eine etwas andere Bedeutungsebene: So sieht gelungene Inklusion im Film aus.

 

Zu schön um wahr zu sein?

 

Diesem Ansatz folgend, ließ man auch für die deutsche Synchronversion die Dialoge von Menschen mit Down-Syndrom von ebensolchen sprechen. Nun könnte man einwenden, dass diese Gangsterkomödie eine bisschen zu schön ist, um wahr zu sein, doch genau das ist im Kino seit seinen Anfängen Normalität. Diesen Film zeichnet aus, dass er die Menschen, die er porträtiert, ernst nimmt, ihnen zuhört und sie sein lässt, wie sie sind.