
„Ich heiße Inger und bin schizophren“, sagt die Anfangsvierzigerin (Sofie Gråbøl). Nach dieser eindeutigen Ansage klingeln bei der dänischen Reisegruppe, die im Bus nach Paris fährt, die Alarmglocken. Die bunt zusammengewürfelte Gesellschaft ist wild entschlossen, sich eine schöne Zeit in der Seine-Stadt zu machen, und reagiert sehr unterschiedlich auf Ingers Mitteilung; die meisten mit Ignoranz, manche mit Mitgefühl.
Info
Rose –
Eine unvergessliche Reise nach Paris
Regie: Niels Arden Oplev,
106 Min., Dänemark 2022;
mit: Sofie Gråbøl, Lene Maria Christensen, Anders W. Berthelsen
Weitere Informationen zum Film
Unverblümte Selbstauskünfte
Nur die Sicherheit, dass sie genug Medikamente und Valium im Gepäck hat, lässt sie dennoch in den voll besetzten Bus steigen. Im Gegensatz zu ihren aufgekratzten Mitreisenden sitzt sie seltsam zusammengekauert da und schaut niemanden direkt an. Bis sie nach dem Bordmikrophon greift: So unverblümt Inger über ihre Krankheit spricht, so ungefiltert äußert sie auch ihre Gedanken und Gefühle, was meistens mit betretenem Schweigen aufgenommen wird.
Offizieller Filmtrailer
Balance zwischen Ernst + Albernheit
Bei ihr kann von der sprichwörtlichen skandinavischen Zurückhaltung keine Rede sein; das wird im Verlauf der Fahrt bei den Mitreisenden manchen Konflikt, der schon vorher schwelte, offen zutage treten lassen. Inger wird auf dieser Reise aber auch ihren eigenen Dämonen begegnen: Der frühere Paris-Aufenthalt hat wahrscheinlich ihre Erkrankung ausgelöst.
Diese Konstellation böte Stoff für große Gefühlsdramen. Der dänische Regisseur Niels Arden Oplev macht aber aus dieser Geschichte, die in ähnlicher Form tatsächlich passiert ist, eine leichtfüßige Tragikomödie mit ausgewogener Balance zwischen Ernst und unbeschwerten, sogar albernen Momenten. Das mag daran liegen, dass er im Grunde eine Episode erzählt, die sich in seiner eigenen Familie zugetragen hat.
Freundschaft mit Zwölfjährigem
Er hat auch die realen Namen seiner Schwestern beibehalten; andere Details dürften erfunden sein. Der Zeitpunkt der Reise 1997, nur wenige Wochen nach dem tödlichen Autounfall von Lady Diana, stimmt jedoch. So schwingt in diesem Film auch ein wenig Zeitgeschichte mit. Auf die Stimmung der Reisegesellschaft wirkt sich dieses historische Unglück aber keineswegs aus.
Eher macht sich die Übellaunigkeit des verkniffenen Vize-Schuldirektors Skelbæk bemerkbar. Er beobachtet mit Argwohn, dass sein zwölfjähriger Sohn Christian sich mit Inger gut versteht, weil er als einziger ihr unvoreingenommen und neugierig Fragen stellt. Das traut sich kein anderer Mitreisender – wohl auch aus Furcht vor viel zu ehrlichen Antworten.
Zu dritt unter einer Decke schlafen
Als der Reisebus in Paris eintrifft, bekommt Inger das kaum mit. Stattdessen erinnert sie sich ausgiebig an ihre Zeit in der Stadt vor zwanzig Jahren – an ihr damaliges, unbeschwertes Ich. Sie wird auch dem Mann wieder begegnen, dessen Verhalten ihren heutigen Zustand mit ausgelöst hat. Doch von dieser Konfrontation kann man keine Wunderheilung erwarten. Dagegen wirkt sich der Trip positiv auf das Verhältnis der beiden Schwestern zueinander aus; sie hatten sich zuvor entfremdet.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Flatliners" – Remake eines Thrillers über Nahtod-Erfahrungen von Niels Arden Oplev
und hier eine Besprechung des Films "Dead Man Down" – gelungener Rache-Thriller mit Colin Farrell + Noomi Rapace von Niels Arden Oplev
und hier einen Bericht über den Film "Eleanor & Colette" – Psychiatrie-Drama über Patientenrechte einer Schizophrenen von Bille August
und hier einen Beitrag über den Film "Die Überglücklichen" – originelles Porträt einer Frauenfreundschaft in der Psychiatrie von Paolo Virzì.
Es geht um Familienbande
Während Lene sich weiter um ihre Schwester kümmert, wobei diese langsam gelöster wird, finden die beiden miteinander eine neue Ebene. Sie sprechen sich aus, hören einander zu und machen positive Erfahrungen miteinander – wenn etwa Inger einen Tagesausflug rettet, was die Reisegruppe mit Wohlwollen quittiert.
Regisseur Oplev erzählt das mit vielen Zwischentönen und unübersehbar tiefer Sympathie zu den Hauptpersonen. Er zeigt sie in allen Facetten, ohne zu gefühlig oder verletzend zu werden, nimmt dabei aber auch Schizophrenie und deren Auswirkungen auf Erkrankte ernst, ohne sie über Gebühr zu dramatisieren. Denn letzlich geht es nicht um sie, sondern Familienbande – man kann sie sich nicht aussuchen, aber mitunter besser gestalten.