Größenwahn in Vollendung: nicht nur bei den Protagonisten, sondern auch im Film selbst. Wie Leo Tolstoi mit „Krieg und Frieden“ die gesamte napoleonische Ära in einem Roman darstellt, und James Joyce im „Ulysses“ einen einzigen Tag im Minutentakt beschreibt, will Adam McKay die ganze Finanzkrise von 2007/8 in einem Spielfilm unterbringen.
Info
The Big Short
Regie: Adam McKay,
130 Min., USA 2015;
mit: Christian Bale, Steve Carell, Ryan Gosling, Brad Pitt
Comedy als Finanz-Training
Für so ein vermessenes Vorhaben ist jemand wie Adam McKay vielleicht genau der Richtige: Er hat bislang eher derbe Komödien wie „Ricky Bobby – König der Rennfahrer“ (2006) oder „Die etwas anderen Cops“ (2010) gedreht. Und vorher zwölf Jahre lang als Autor der comedy show „Saturday Night Live“ trainiert, Tagesaktualität mit galligen gags aufzuspießen, die er wechselnden showbiz-Größen auf den Leib schrieb. Genauso geht er in „The Big Short“ vor.
Offizieller Filmtrailer
Barfuss im Büro heavy metal hören
Keine Hauptfigur, sondern ein halbes Dutzend Akteure; etwa Michael Burry. Der Quereinsteiger entdeckt bei der Analyse zahlloser Immobilienkredite, wie unzureichend sie abgesichert sind; diese Blase muss irgendwann platzen. Trotz Börsen-boom wettet er mit Leerverkäufen gegen die Großbanken: Fallen die Kurse, kassiert sein hedgefonds einen Milliardengewinn. Dabei läuft der Zocker barfuss im Büro herum und hört ständig heavy metal. Christian Bale spielt ihn großartig als leicht autistischen weirdo voller Tics – so undurchschaubar wie die Finanzsphäre selbst.
In die ist Mark Baum (Steve Carell) als Leiter einer Abteilung der investment bank „Morgan Stanley“ voll integriert. Als sein team von der fatalen Fehlentwicklung am Finanzmarkt Wind bekommt, will er daran verdienen und zugleich Gründe und Ausmaß herausfinden. Einen Mitstreiter findet er in Jared Vennett (Ryan Gosling): Der Makler der Deutschen Bank durchschaut den Schneeball-Mechanismus, der die Börsenkurse hochschnellen lässt – und demonstriert seine Instabilität mit Bauklötzchen.
Stripperin besitzt fünf Häuser
Kleinanleger, die ihr Geld an die Börse tragen, repräsentieren zwei nerds aus Colorado: Sie haben ihren eigenen Fonds aufgebaut, wollen nun das große Ding drehen, und Ben Rickert (Brad Pitt) verschafft ihnen Zutritt zur Wall Street. Der kulturpessimistische Ex-Broker ist zwar längst ausgestiegen, doch ihm gefällt die Idee, mit Leerverkäufen die Absurdität des Systems auszunutzen.
Um diese disparate Bande von number crunchers von ihren charts-Bildschirmen loszueisen, jagt Regisseur McKay sie an die abseitigsten Schauplätze. Mark Baum und seine Leute treffen Drückerkolonnen-Typen, die Leuten ohne festes Einkommen Darlehen aufschwatzen, oder eine Stripperin, die fünf Häuser besitzt – nur als Hypothek für weitere Kredite.
Interessenkonflikt, was ist das?
Eine Mitarbeiterin der rating-Agentur „Standard & Poor’s“ räumt kalt lächelnd ein, dass ihre Firma die Bonität von Wertpapieren hochstuft, in die sie selbst investiert hat – Interessenkonflikt, was ist das? Die staatliche Börsenaufsicht mischt beim Auffrisieren fröhlich mit.
Und während teenie star Selena Gomez im Casino Black Jack spielt, schließen die Umstehenden darauf Saalwetten ab, um den Domino-Effekt der Hebelwirkung (leverage) vorzuführen: Erst steigen ihre Gewinne nominell rasant, dann zerstäuben sie.
Wer alles mitbekommt, war nicht dabei
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Besprechung des Films “The Wolf of Wall Street” – grandiose Börsen-Groteske von Martin Scorsese mit Leonardo DiCaprio
und hier einen Bericht über den Film “Der große Crash – Margin Call” - brillanter Finanzmarkt-Thriller von JC Chandor mit Kevin Spacey
und hier eine kultiversum-Besprechung des Essays “Das Gespenst des Kapitals” - Analyse der heutigen Finanzwelt vom Kulturwissenschaftler Joseph Vogl.
Dieser all-over-Effekt macht den Wahnwitz des elektronischen Börsenhandels geradezu physisch spürbar: Überforderung aller Beteiligten, die ausnahmslos nicht mehr durchblicken, aber mit fast magischem Glauben darauf hoffen, die Profitgenerierungs-Maschine werde schon irgendwie weiter laufen – mindestens bis zur eigenen „Gewinnmitnahme“.
Schrecklicher Horrorfilm
Im August 2007 war damit Schluss – aber nicht für lange: Seit seinem Tiefstand Ende 2008 ist der Dow Jones-Index mittlerweile wieder auf rund das Doppelte gestiegen. Nicht von ungefähr: Staatsgarantien und -hilfen in Billionenhöhe haben das Schlimmste abgewendet. Um die dafür nötige Verschuldung zu finanzieren, fluten die Notenbanken die Welt mit billigem Geld. So bürgen Steuerzahler für investment banker, damit sie weiter zocken können.
Denn die große Finanzmarkt-Reform blieb aus: Ein paar besonders betrügerische Praktiken wurden eingedämmt, doch ansonsten geht der Derwisch-Tanz auf dem Börsenparkett weiter. Wie Regisseur McKay resümiert: „Es ist ein Horrorfilm, der viel schrecklicher ist, als ich es gerade beschrieben habe.“