
„Nora oder ein Puppenheim“ (1879) zählt zu den bekanntesten Werken des norwegischen Dramatikers Henrik Ibsen. Darin verlässt eine Frau ihren Mann und ihre Kinder, um endlich sie selbst sein zu können statt ein unmündiges Anhängsel ihrer Familie. Das war damals ungeheuerlich. Die Namensgleichheit der Figuren im Theaterstück und im Film „Freiheit“ ist kein Zufall. Der Regisseur Jan Speckenbach beobachtet „seine“ Nora (Johanna Wokalek) dort weiter, wo Ibsens Handlung aufhört.
Info
Freiheit
Regie: Jan Speckenbach,
100 Min., Deutschland/ Slowakei 2017;
mit: Johanna Wokalek, Hans-Jochen Wagner, Inga Birkenfeld
Fragmentarischer plot
Später folgt ein Schnitt zu einem bärtigen, massigen Mann, der mithilfe einer Fernsehsendung nach seiner vor zwei Jahren verschwundenen Frau sucht. Dann wird Philip ((Hans-Jochen Wagner) mit seinen Kindern beim Frühstück gezeigt und daraufhin mit einem jungen Klienten. Speckenbach reißt Szenen nur kurz an, statt sie auszubuchstabieren. Dabei genügen ihm wenige Augenblicke, um eine Situation oder eine Person zu charakterisieren.
Offizieller Filmtrailer
Elegante Bilder
Sein Film ist ein komplexes Puzzle, das sich Kopf des Zuschauer zusammenbaut und von wiederkehrenden visuellen und akustischen Motiven zusammengehalten wird. So verstärken die glasklaren, tieftraurigen Arien von Henry Purcell die eleganten, wohlkomponierten Bilder des Kameramanns Tilo Hauke. Der Turm zu Babel, den Nora anfangs auf einem Gemälde sieht, findet sich in gewandelter Form in der letzten Einstellung wieder. Verheißung und Scheitern kondensieren in diesem Bild. Beides prägt Noras Aufbruch ins Unbekannte. Doch bis zum Schluss bleibt unklar, was nun überwiegt.
Nora, von einer herausragenden Johanna Wokalek gespielt, wirkt oft leer und unverbunden mit ihrer Umgebung. Sie lässt sich von Impulsen und Zufällen leiten. Einmal hält sie ein Auto an, das nach Bratislava fährt, und landet eben dort. Dort lernt sie, immer offen für Neues, eine Familie kennen, nimmt einen Job an und genießt das unverbindliche Glück des Augenblicks. Das allerdings bezahlt sie mit Momenten der Verzweiflung.
Ausbruch aus bürgerlichem Leben
Dieser Schwebezustand des Unterwegsseins, wenn alles offen und möglich scheint, weil noch nichts eine konkrete Form angenommen hat, wird gut illustriert. Über die Jugend, mit dem dieses Lebensgefühl oft assoziiert wird, ist Nora längst hinaus. In Berlin ließ sie ein gutbürgerliches Leben mit Mann, Kindern und Anwalts-Job zurück.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Drei Zinnen" - Patchwork-Familien-Drama von Jan Zabeil
und hier einen Bericht über den Film "Die Lebenden reparieren" - Familien-Drama von Katell Quillévéré
und hier einen Beitrag über den Film “Jackie - wer braucht schon eine Mutter” – tragikomisches Familien-Drama von Antoinette Beumer.
Kritik an der Freiheit
Ihr Verhalten wird zwar weder entschuldigt noch verurteilt, doch gezeigt wird auch das Leid der Verlassenen: Ehemann Philip ist ebenfalls Anwalt, nach Noras Weggang muss er vor allem funktionieren. Sein Herz schüttet er nur einem Mann aus, der von einem seiner Mandanten ins Koma geprügelt wurde und seitdem im Krankenhaus liegt.
Auch die beiden Kinder sind traumatisiert vom plötzlichen Verlust ihrer Mutter. Ohne eine Erklärung für Noras Verhalten ist für sie und ihren Vater kein Abschied oder Neuanfang möglich. Das ist Noras eigentliche Grausamkeit: Ihre Freiheit fesselt die Zurückgebliebenen in der Vergangenheit. „Freiheit“ ist auch ein Film über unsere Gesellschaft, die das Freisein zum höchsten Ziel gemacht hat. Doch in der Realität dürften sich die meisten Menschen, in den Zwängen des Alltags, der Ökonomie und der Selbstoptimierung gefangen sehen.