Lost in Midwest: Johnny (John Reddy) und seine kleine Schwester Jashaun (Jashaun St. John) leben mit ihrer alleinerziehenden Mutter im „Pine Ridge“-Indianerreservat in South Dakota. Die einfachen Siedlungen und Holzbaracken sind Wind und Wetter ausgesetzt. Armut und Alkoholismus prägen das Leben der ökonomisch abgehängten Gemeinschaft von Lakota Sioux. Irgendwie, heißt es einmal, ist hier jeder mit jedem verwandt – und keiner erwartet, dass sich ihr Leben jemals wesentlich ändern wird. Als Johnnys Lehrer seine Schüler fragt, was sie nach ihrem Abschluss machen wollen, hat die Mehrheit denselben Berufswunsch: Rodeoreiter.
Info
Songs My Brothers Taught Me
Regie: Chloé Zhao,
94 Min., USA 2015;
mit: John Ready, Jashaun St. John, Irene Bedard
Weitere Informationen zum Film
Freie, schlechte Seele
„Eine wilde, freie Seele trägt immer etwas Schlechtes in sich“, erklärt Johnny im Prolog des Films aus dem Off, während die Kamera ihn beim Einreiten eines Wildpferdes beobachtet: Das sei auch notwendig, um in der Wildnis zu überleben. Leicht lässt sich diese Weltsicht von den Pferden auf die Bewohner des Lakota Reservats in den Badlands der amerikanischen Prärie übertragen.
Offizieller Filmtrailer OmU
Vertrauter will abwandern
Abgesehen von Rodeos gibt es hier eigentlich nur zwei Möglichkeiten, Geld zu verdienen: Entweder man fertigt und verkauft indigenes Kunsthandwerk, so wie Travis (Travis Lone Hill), oder man hält sich mit Alkoholschmuggel über Wasser. Letzteres ist gefährlich, aber insbesondere für die Jüngeren naheliegender. In diesem Punkt ist Johnnys gegenwärtiger Broterwerb exemplarisch für seine community. Ebenso der Umstand, dass er seinen Bruder Cody im Gefängnis besuchen muss, wenn er ihn um Rat fragen will. Der ist einer von insgesamt 25 Halbbrüdern und -schwestern; hervorgegangen sind sie aus neun Beziehungen seines Vaters, der kurz zuvor erbärmlich ums Leben gekommen ist.
Johnny möchte mit seiner Freundin Aurelia (Taysha Fuller) nach Los Angeles ziehen. Dort will Aurelia Jura studieren, Johnny sich einen Job suchen und seine Freundin beschützen – obwohl ihn daheim im Reservat mit der elfjährigen Jashaun eine symbiotische Beziehung verbindet; er ist ihre wichtigste Vertrauensperson. Hin und her gerissen sucht Johnny den Rat seines Bruders Cody. Der ermutigt ihn, seine Abwanderungspläne umzusetzen; schließlich habe ihre gemeinsame Mutter ihre Kinder verwahrlosen lassen, was er ihr vorwirft. Als Jashaun kurz darauf zufällig von Johnnys und Aurelias Vorhaben erfährt, ist sie zutiefst verletzt und fühlt sich verraten.
Hoffnung trotz prekärer Umstande
Während Johnny Vorbereitungen für sein neues Leben trifft, sucht Jashaun die Nähe von Travis; sie hilft ihm, seine Kunst zu verkaufen. In dieser spielt die Zahl Sieben eine Schlüsselrolle. Travis erklärt ihr, die Sieben sei eine der wichtigsten Zahlen sowohl in der Bibel als auch in der indianischen Tradition. Vor allem aber habe der legendäre Häuptling Crazy Horse vorausgesagt, dass das Geschick der Lakota Sioux sich sieben Generationen nach dem Massaker von Wounded Knee (1890) zum Guten wende werde – und Jashaun verkörpere nun diese siebte Generation.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Rider" – einfühlsames Drama über verletzten Rodeoreiter von Chloé Zhao
und hier einen Beitrag über den Film "Three Billboards outside Ebbing, Missouri" – schwarzhumoriges US-Outsider-Drama von Martin McDonagh, mit zwei Oscars prämiert
und hier eine Besprechung des Films "Die Frau, die vorausgeht" – Western über weiße Malerin bei Sioux-Indianern von Susanna White
und hier einen Bericht über den Film "Wind River" – kühler Neo-Western über Mord im Indianerreservat von Taylor Sheridan.
Zwischen Wong Kar-Wai + Larry Clark
Johnny will das erbärmliche Umfeld durch Abwanderung verlassen; dagegen demonstriert Jashaun, welches Potenzial in solidarischem Verhalten stecken kann. Stilistisch bezieht Chloé Zhao sich vor allem auf ihr erklärtes Vorbild Wong Kar-Wei und das Meisterwerk „Happy Together“ (1997) des Regisseurs aus Hong Kong – was die Kameraarbeit und Emotionalität der Geschichte angeht, aber auch beim Einbinden von Musik und Natur. In seinen eher depressiven Momenten erinnert der Film dagegen an das Coming-of-Age-Drama „Kids“ (1995) von Larry Clark.
Zhaos Film bleibt überzeugend im Gleichgewicht zwischen Verderben und Zuversicht. Die Regisseurin beschönigt weder das ärmliche Leben im Reservat, noch beutet sie das vorgefundene Elend effekthascherisch aus; die Darstellung wirkt durchweg naturalistisch. Dass ihr diese Balance gelingt, liegt vor allem an den überragenden Laiendarstellern. Ihre körperliche Präsenz und ihre Gesichter bleiben nachhaltig in Erinnerung. Sie verwandeln nicht nur den Prozess des Erwachsenwerdens unter schwierigen Bedingungen in großes und bewegendes Kino – sondern auch ihr Dilemma, sich zwischen widerstreitenden Loyalitäten entscheiden zu müssen.