Anfang des 20. Jahrhunderts besaß eine Familie in der westlichen Welt durchschnittlich rund 180 Dinge – in den Konsumgesellschaften von heute sind es 10.000. Doch als sich Ferns (Frances McDormand) Leben drastisch ändert, bleibt von dieser Flut an Gegenständen gerade so viel, wie in ihren Van passt. Der Rest verstaubt in einer Garage.
Info
Nomadland
Regie: Chloé Zhao,
108 Min., USA 2020;
mit: Frances McDormand, David Strathairn, Linda May
Weitere Informationen zum Film
Home is where your heart is
Fern fällt durch die in den USA sehr weiten Maschen des sozialen Netzes – und wohnt fortan in ihrem Van. Mit ihm reist sie quer durchs Land von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob: im Weihnachtsgeschäft in Amazons Lagern, als Campingplatzwartin in einem Nationalpark oder bei der Zuckerrübenernte – um nur einige zu nennen. Wie Fern einer Bekannten im Supermarkt beiläufig erzählt, ist sie dabei keineswegs heimatlos, sondern nur ohne Haus. In dieser Unterscheidung liegt die Essenz: Home is where your heart is – und wenn das Leben dir Zitronen gibt, mach Limonade draus.
Offizieller Filmtrailer
Durchfall im Van
Der Film, der aus europäischer Perspektive eigentlich ein anklagendes Sozialdrama über die Ungerechtigkeit des US-Wirtschaftssystems sein müsste, feiert die Freiheit, Unabhängigkeit und Kraft des Individuums, Krisen als Chancen zu begreifen. Dass eine aus China stammende Regisseurin diese uramerikanischen Werte propagiert, spricht für ihre kulturübergreifende Anziehungskraft. Und auch wenn sie die politischen Umstände, die Ferns Leben bestimmen, weitgehend ausgeblendet, ist Zhao doch keineswegs blind für die soziale Not der Arbeitsnomaden und die Unwägbarkeiten ihrer Existenz.
Aber ob es nun um Durchfall im Van, einen Reifenwechsel oder die kostspielige Reparatur des in die Jahre gekommenen Vehikels geht: Das Glas ist im Zweifelsfall halb voll statt halb leer. Die Solidarität unter den Arbeitsnomaden und die grandiose Natur machen Fern den Verlust ihres alten Lebens erträglich. Unter den Nomaden gibt es Zusammenhalt und eine Offenheit, wie sie sich im sesshaften Leben nur selten finden. Fern wird vorbehaltlos akzeptiert, am Lagerfeuer kann jeder seine Geschichte und vor allem seinen Schmerz teilen. Und auch wenn die meisten allein reisen, treffen sie sich doch häufig wieder entlang ihrer Wege.
Im Abschied der Neubeginn
In der wohl häufigsten Einstellung folgt die Kamera Ferns Van, wenn er durch menschenleere Landschaften fährt. Die Natur ist die große Trösterin; menschliche Probleme relativieren sich angesichts der unermesslichen Weite der Landschaft. Wenn Fern sich nackt im Wasser treiben lässt oder sich in pittoresker Berglandschaft verliert, scheint sie ihren inneren Frieden gefunden zu haben.
Hintergrund
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Etliche der im Buch Porträtierten spielen auch im Film fiktionale Varianten ihrer selbst. Bis auf Frances McDormand als Fern und David Strathairn als ihr Freund Dave sind alle Laiendarsteller. Das sorgt für eine hohe Authentizität dieser Milieustudie, die ohne dramatische Höhepunkte auskommt. McDormand, die auch die Produzentin des Films ist, fügt sich mit subtilem Ausdruck nahezu nahtlos in diesen Mikrokosmos ein.
Die Vergangenheit ihrer Figur wird allenfalls schlaglichtartig erhellt, aber so viel wird deutlich: Fern war wohl immer ein innerlich sehr unabhängiger Mensch. Es geht ihr nicht darum, versorgt zu sein – zwei Einladungen zu bleiben schlägt sie aus, obwohl sie durchaus akteptabel scheinen. Ihr Nomadenleben ist eher Neubeginn als Abschied. Oder, wie Bob Wells, der Guru der Arbeitsnomaden im Film, sagt: „There is no final goodbye“ – kein Abschied ist für immer.