
Ein buntes, expressionistisches Gemälde; eine Treppe, von der eine neongrüne Flüssigkeit tropft; eine Kamerafahrt über Leichen, die mit weit aufgerissenen Augen auf der Straße liegen. Die surreale Montage-Sequenz zu Beginn des neuen Films von Regisseur Michel Franco setzt den Tenor für die nächsten 90 Minuten – und nimmt der folgenden Eingangsszene schon vorab ihre Unschuld.
Info
New Order - Die neue Weltordnung
Regie: Michel Franco,
88 Min., Mexiko/ Frankreich 2020;
mit: Naian González Norvind, Diego Boneta, Fernando Cuautle
Weitere Informationen zum Film
Symbolträchtige Verwüstung
Es handelt sich um Demonstranten – Akteure eines Aufstandes, der offenbar eskaliert. Wann und wie er genau begonnen hat, wird nicht erläutert. Klar jedoch ist: Es geht um Arm gegen Reich – und dieser Konflikt wird höchst militant ausgetragen. Die Aufständischen zögern nicht lange. Willkürlich erschießen sie Gäste, darunter Mariannes Eltern; außerdem plündern und zerstören sie die Einrichtung des Anwesens.
Offizieller Filmtrailer
Plakative Gegensätze
Später zeigt die Kamera ein schockierendes Bild der Verwüstung, inszeniert wie ein Stilleben. Es lässt sich symbolisch verstehen: Exzessiver Reichtum führt ins Verderben. Überhaupt setzt der farbsatte Film auf plakative Symbolik. Das knallrote Kleid der Braut etwa spielt auf ihre herausgehobene Rolle an. Als der ehemalige Bedienstete Rolando (Eligio Meléndez) vor dem Überfall auf der Hochzeit auftaucht und um Geld für die Operation seiner schwerkranken Frau bittet, ist sie die einzige in ihrer Familie, die ihm hilft.
Dass sie von der eigenen Hochzeit zu ihm nach Hause fährt und dort von abtrünnigen Militärs entführt wird, die sie dann in einem Gefängnis brutal foltern, verleiht ihr etwas geradezu Märtyrerhaftes – in einer moralfreien Welt, in der Emotionen kaum mehr zu existieren scheinen. Stattdessen wird das Geschehen von Affekten gesteuert: intensiven, schwer kontrollierbaren Regungen, die sich in Extremsituationen weiter hochschaukeln.
Unvermittelt eindringlich
Der Zuschauer entwickelt angesichts des Gemetzels kaum eine emotionale Beziehung zu den Figuren im Film – und schon gar keine Anteilnahme. Zu willkürlich erscheint die Gewalt, zu schwarz-weiß und plakativ sind die ständig gegeneinander geschnittenen Welten: hier die aufgeräumten, vollverglasten Villen vor blauem Horizont, dort heruntergekommene Wohnblöcke in müllgesäumten und blutgetränkten Straßen.
Hintergrund
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und hier einen Beitrag über den Film "Heli" – schonungslose Bestandsaufnahme allgegenwärtiger Gewalt in Mexiko von Amat Escalante.
Mahnmal für Mexiko
So wirkt der Kreislauf der Gewalt zwischen den Abgehängten aus den Armenvierteln und dem Militär, das vermeintlich die Reichen in ihren abgeschirmten gated communities schützt, wie ein Automatismus. Alles, was den Leuten bleibt, ist zu reagieren auf eine Welt, deren weiterer Lauf ihrem Einfluss völlig entzogen scheint.
Es ist, als habe Franco ein fiktionalisiertes Mahnmal geschaffen für ein Land, dessen Sicherheitskräfte im Zuge der Drogenkartell-Kriege immer stärker aufrüsten, und in dem allein im vergangenen Jahr mehr als 34.000 Menschen ermordet worden sind. So betrachtet erschließt sich auch der symbolische Charakter des mysteriösen Grüns, mit dem die Aufständischen hantieren: Es spielt, gemeinsam mit dem allgegenwärtigen Blut, auf die Farben der mexikanischen Nationalflagge an. Eine ästhetisch gelungene, wenn auch sehr zynische Metapher.