Sylvie Ohayon

Haute Couture – Die Schönheit der Geste

Directrice Esther (Nathalie Baye, li.) hat Jade (Lyna Khoudri) ein Praktikum bei Dior ermöglicht. Foto: © Happy Entertainment
(Kinostart: 21.4.) Aschenputtel aus der Banlieue: Die Leiterin eines Modeateliers gibt einer Taschendiebin die Chance, für sie als Schneiderin zu arbeiten. Realitätsnahe Sozialreportage mit märchenhaften Zügen, von Regisseurin Sylvie Ohayon warmherzig mit leichter Hand inszeniert.

Eine kleine Geste oder ein freundliches Wort können einem Leben eine neue Wendung geben. Das gilt auch für gehobene französische Unterhaltungsfilme; oft führen sie immer wieder gekonnt vor, wie man altbekannte Motive schön und neu verkleiden kann, ohne sie zu verschneiden. Textile Metaphern drängen sich bei „Haute Couture – Die Schönheit der Geste“ geradezu auf, denn Regisseurin Sylvie Ohayon lässt die Hauptpersonen – ein ungehobeltes Vorstadtmädchen und eine distinguierte Dame – hinter den Kulissen der Modewelt in einem Schneideratelier agieren.

 

Info

 

Haute Couture –
Die Schönheit der Geste

 

Regie: Sylvie Ohayon,

100 Min., Frankreich 2021;

mit: Nathalie Baye, Lyna Khoudri, Pascale Arbillot, Claude Perron 

 

Weitere Informationen zum Film

 

Hier führt Directrice Esther (Nathalie Baye) ein straffes Regime, ganz der werkgetreuen Umsetzung von Entwürfen in Einzelstücke verschrieben; man arbeitet schließlich für Dior. Sie lebt allein in einem ruhigen Pariser Vorort und fährt täglich mit Zug und Metro an ihren lichtdurchfluteten Arbeitsplatz, einem Symbol für Reichtum und Schönheit.

 

Gestohlene Davidstern-Kette

 

Eines Tages wird ihr auf ihrer Pendlerfahrt von einer jungen Frau die Handtasche gestohlen; in der befinden sich auch ein Kleider-Skizzenbuch und eine Kette mit Davidstern. Dieses Schmuckstück bereitet der Diebin Jade (Lyna Khoudry) ein schlechtes Gewissen. Sie glaubt, dass man sich keine fremden religiösen Symbole aneignen darf, und beschließt, unter einem Vorwand die Tasche zurückzubringen.

Offizieller Filmtrailer


 

Praktikums-Angebot statt Strafe

 

Esther erkennt sofort die Übeltäterin, macht aber gute Miene, weil sie Jades kleine, geschickte Hände bemerkt; die eignen sich nicht nur zum Stibitzen, sondern auch zum feinen Nähen. Kurzerhand bietet sie dem Mädchen ein Praktikum im Atelier an, was nicht bei allen Mitarbeiterinnen gut ankommt.

 

Am meisten staunt die junge Frau selbst über das Angebot, denn bisher traute ihr niemand etwas zu; weder ihre Lehrer noch ihre schwer depressive Mutter, um die sie sich kümmern muss. Esther, die für ihr berufliches Fortkommen ihre Familie vernachlässigt hat und nun kurz vor der Pensionierung steht, sieht in Jade offenbar unbewusst eine Ersatztochter, an die sie ihre Fähigkeiten weitergeben möchte.

 

Kamera blickt Akteurinnen auf Finger

 

Bald findet Jade Gefallen an ihrer neuen Aufgabe und zeigt echtes Talent; sie sabotiert sich jedoch selbst, indem sie in alte Langfinger-Gewohnheiten zurückfällt. Als Esther zusammenbricht, weil sie an Diabetes leidet, was ihr Umfeld nicht wusste, ist Jade für sie da und spannt dafür auch noch ihre bunte Freundestruppe mit ein.

 

Obwohl der Film etwas märchenhafte Züge hat, indem er die Aschenputtel-Geschichte ins Heute überträgt, inszeniert ihn Regisseurin Sylvie Ohayon mit leichter Hand angenehm realitätsnah. In ihrem zweiten Spielfilm geht es nicht um die schöne Glamourwelt der Haute Couture, sondern um die harte Arbeit dafür. Dabei schaut die Kamera den Akteurinnen buchstäblich auf die Finger, während sie im originalgetreu gestalteten Schneideratelier edle Stoffe verarbeiten und Schönes schaffen.

 

Kundenfang mit französisierten Namen

 

Vom Glanz der Modewelt sieht man tatsächlich nur ein Hinterzimmer, durch das bisweilen Mannequins zur Anprobe tänzeln. Deren Luxus-Look kontrastiert mit der Lebenswelt der Charaktere; sie haben sich aus den Pariser Vorstädten ins Zentrum der Hauptstadt vorgearbeitet. Dafür französisieren manche von ihnen sogar ihre arabischen Namen, etwa Jades Kollege und späterer Liebhaber Abdel (Adam Bessa) – damit die solvente Kundschaft keinen Anstoß nimmt.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "House of Gucci" - turbulentes Fashion-Familien-Drama von Ridley Scott

 

und hier ein Beitrag über den Film "Yves Saint Laurent" - einfühlsames Biopic über den legendären Modeschöpfer von Jalil Lespert

 

und hier eine Besprechung des Films "Der seidene Faden" über einen exzentrischen Schneider im London der 1950er Jahre von Paul Thomas Anderson.

 

Dabei greift die Regisseurin, die selbst in einer Banlieue-Trabantenstadt aufgewachsen ist, auf eigene Erfahrungen zurück. Gerade die Szenen, in denen Jade unbefangen mit ihren sehr diversen Freunden zusammen ist, die zunächst skeptisch und später solidarisch ihren Weg unterstützen, inszeniert Ohayon mit viel Sympathie. Auch Jades neue Atelier-Kollegen bekommen plastische Konturen, sogar eine miese Intrigantin.

 

Die Geste zählt: Eine gute Tat

 

Neben der allgemein humanistischen Atmosphäre schwingt unterschwellig eine ganz natürliche Toleranz mit: Nur durch den Respekt vor religiösen Symbolen, hier dem Davidstern, kommt die Geschichte ins Rollen. Das mag etwas zu naiv erscheinen, entspricht aber durchaus einem Aspekt der französischen laïcité, der strikten Trennung von Staat und Kirche.

 

Detailgetreuer Realismus spiegelt sich auch in der sehr genauen Ausstattung wider. Dabei geht es hier nicht um engagiertem Sozialrealismus, sondern um die Annährung von zwei Menschen aus vermeintlich völlig verschiedenen Welten. Der französische Untertitel „La Beauté du Geste“ bedeutet etwa „Die Geste zählt“ oder einfach nur „Eine gute Tat“, von denen es hier etliche gibt. Angesichts der aktuellen Weltlage hat das etwas Tröstliches.