Isabelle Huppert

Der Schatten von Caravaggio

Marquesa Costanza Colonna (Isabelle Huppert) betrachtet als Mäzenin von Caravaggio (Riccardo Scamarcio) dessen Gemälde "Bekehrung des Paulus". Foto: © Wild Bunch Germany 2023
(Kinostart: 12.10.) Erfindung ist wahrer als fade Faktentreue: Michelangelo Merisi, genannt Caravaggio, galt als Wüstling und revolutionierte die Barockmalerei. Sein wildes Leben und wegweisendes Werk schildert Regisseur Michele Placido opulent freimütig – mit schrägen Details für höhere Einsichten.

Ein rock’n’roll animal avant la lettre sei Michelangelo Merisi (1571-1610) gewesen, heißt es: unbeherrscht, jähzornig und gewalttätig. Dabei lebensgierig, genusssüchtig und ausschweifend; er habe Frauen, Männer und Jünglinge gleichermaßen vernascht. Zugleich habe er sich hochmütig als einzigartiges Malergenie gerühmt, berichten seine Zeitgenossen. Was zutrifft oder nur üble Nachrede von Neidern und Konkurrenten ist, lässt sich vier Jahrhunderte danach kaum noch beurteilen.

 

Info

 

Der Schatten von Caravaggio

 

Regie: Michele Placido,

120 Min., Italien 2022;

mit: Riccardo Scamarcio, Louis Garrel, Isabelle Huppert

 

Weitere Informationen zum Film

 

Fest steht: Caravaggio revolutionierte die Malerei – und das in nur 18 Jahren, zwischen seiner Ankunft in Rom 1592 und seinem frühen Tod. Formal wie inhaltlich: Anstatt Figuren in Interieurs oder Landschaften zu postieren, zoomte er sie heran und tauchte sie in Schlaglicht. Scharfe Hell-Dunkel-Kontraste ließen Details besonders deutlich hervortreten; auch unvorteilhafte wie Runzeln, rissige Fingernägel oder schmutzige Füße.

 

Europaweit von Caravaggisten kopiert

 

Denn er rekrutierte seine Modelle häufig aus dem gemeinen Volk: unter Armen, Bettlern oder Prostituierten. Dadurch zeugten seine dramatischen Darstellungen von unerhörtem Naturalismus – was manche abstieß, andere begeisterte. Im ersten Drittel des 17. Jahrhundert ahmten europaweit etliche Künstler seinen Stil nach: die so genannten Caravaggisten.

Offizieller Filmtrailer


 

Befragungen durch fiktiven Agenten

 

Der wohl wirkungsmächtigste wie umstrittenste aller Barockmaler eignet sich wie kein anderer zum Film-Helden. Den exzentrischsten entwarf 1986 der britische Regisseur Derek Jarman: Sein Caravaggio ist ein zügelloser outlaw, der alle moralische Schranken verachtet und bricht – wobei er sich durch radikal entschleunigte Szenen bewegt, die oft wie verfremdete caravaggieske Tableaus wirken. Deutlich konventioneller, aber dadurch auch zugänglicher und suggestiver, fällt die Filmbiographie von Michele Placido aus. Er wurde hierzulande vor allem als Hauptdarsteller der ersten vier Staffeln der TV-Serie „Allein gegen die Mafia“ (1984-1988) bekannt.

 

Placidos Biopic knüpft an Caravaggios letzte Reise an: Nach vierjährigem Exil in Neapel, Malta und Sizilien hoffte er auf eine päpstliche Begnadigung, um nach Rom zurückkehren zu können. Dort war er 1606 in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden, weil er im Streit seinen Gegner erstochen hatte. Daher beauftragt der Papst einen Agenten (Louis Garrel), Indizien zu sammeln, die für oder gegen einen Gnadenakt sprechen. Dieser fiktive „Schatten von Caravaggio“ klappert nun Freunde und Weggefährten ab – die Befragungen liefern Stichwörter, um seinen Werdegang in Rückblenden zu erzählen.

 

Ein Barockmensch im Wortsinne

 

Das gerät etwas schematisch, zumal der ohnehin coole Garrel mit der Eiseskälte eines Großinquisitors auftritt. Umso sinnesspraller fallen die geschilderten Lebensstationen aus. Riccardo Scamarcio gibt den Helden als Barockmenschen im Wortsinne, der mit seinem Charisma jede Szene beherrscht, Frauen betört, Männer beeindruckt, Widersacher schonungslos brüskiert, keinem Wort- und Schwertgefecht aus dem Weg geht – doch zugleich sich der Gunst seiner hochrangigen Mäzene versichert, indem er anschaulich auf die Wahrhaftigkeit seiner Kunst pocht.

 

Mag dieser Kraftkerl auch einer Bohème-Fantasie des 19. Jahrhunderts gleichen; zur Berserker-Motivwelt seiner Malerei passt es. Drumherum greift Regisseur Placido in die Vollen. Ob lärmender Karnevalsumzug, vollgestopfte Gemäldegalerien, prunkstarrende Kleriker-Versammlungen oder Verliese voller darbender Gefangener: Placido lässt nichts aus, um detailreiche Sittenbilder auszumalen, ähnlich den Kostümorgien des späten Max Ophüls oder des mittleren Federico Fellini.

 

Plausible Schlüsselwerke-Entstehung

 

Zweierlei bewahrt jedoch den Film davor, zum beliebigen Bilderbogen zu werden. Erstens hält er sich an die verbürgten Tatsachen von Caravaggios Vita und schmückt nur ihren Hergang freimütig aus. In ihr haben alle wichtigen Akteure – mit Ausnahme des Agenten – die ihnen zugedachte Rolle gespielt, ob als Gönner oder Rivalen. Außerdem verknüpft das Drehbuch manche Episoden mit Schlüsselwerken aus seinem Oeuvre, was deren Entstehung und Deutung plausibel werden lässt.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Hommage an Caravaggio 1610 – 2010" mit zwei Originalen + Werken der Caravaggisten in der Gemäldegalerie, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Utrecht, Caravaggio und Europa" – facettenreiche Themenschau über niederländische Caravaggisten in der Alten Pinakothek, München

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Wege des Barock" opulente Präsentation der Sammlungen der römischen Palazzi Barberini und Corsini mit Werken von Caravaggio + Caravaggisten im Museum Barberini, Potsdam

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "SUSANNA – Bilder einer Frau vom Mittelalter bis MeToo" – hervorragende Themenschau mit Werken von Artemisia Gentileschi im Wallraf-Richartz-Museum, Köln.

 

Selbst dann, wenn das Skript über die Stränge schlägt. Da ist etwa Isabelle Huppert als seine langjährige Beschützerin Marquesa Constanza Colonna vom Gemälde „Bekehrung des Paulus“ so hingerissen – der Heilige liegt rücklings unter seinem Pferd –, dass sie sich anschließend dem Maler hingibt. Oder: Hupperts Tochter Lolita Chammah begeht als Prostituierte Anna Selbstmord. Sie wird als Wasserleiche aus dem Tiber gefischt – und prompt von Caravaggio als Modell für das Bild „Tod der Jungfrau Maria“ drapiert. Se non è vero, è molto ben trovato (Wenn es nicht wahr ist, ist es sehr gut erfunden).

 

Dualismus von Autorität vs. Autonomie

 

Dieses Zitat wird dem Philosophen Giordano Bruno zugeschrieben; er wurde 1600 wegen Ketzerei zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Doch zuvor lässt ihn der Film im Kerker auf Caravaggio treffen. Auch Artemisia Gentileschi, die bedeutendste Künstlerin ihrer Epoche, berichtet dem Agenten von ihren Besuchen in seinem Atelier – obwohl sie zum Zeitpunkt seiner Flucht aus Rom erst 13 Jahre alt war. Macht nichts: Beide Auftritte bieten im Sinne barocker Allegorien Anlässe, um Aspekte des damaligen Weltbilds zu erhellen.

 

Darum geht es Regisseur Placido: einen Dualismus herauszupräparieren, dessen Gegensätze genauso scharf sind wie die caravaggiesken Hell-Dunkel-Kontraste, mit denen er viele Szenen gestaltet. So kunstsinnig der päpstliche Agent auch ist – letzlich muss er Caravaggios Malerei verdammen, weil sie Doktrin und Autorität der Kirche infrage stellt. Dagegen ficht dieser für etwas, was erst zwei Jahrhunderte später gefragt sein wird: die Autonomie der Kunst – also ihr Vermögen, nicht nur das Bestehende zu bestätigen, sondern Neues zu erkunden.

 

Gegenwärtige Vergangenheitsbeschwörung

 

Inwieweit diese Pointe eine Projektion ist, bleibt unentscheidbar. Doch im Grunde existiert dieser Dualismus bis heute; das macht diesen Historienfilm, der sympathisch altmodisch mit großem Ausstattungs-Aufwand ein vergangenes Zeitalter heraufbeschwört, ganz gegenwärtig.