Daniel Auteuil

Ein Schweigen

François Schaar (Daniel Auteuil) wird verhört. Foto: Arsenal Film
(Kinostart: 13.6.) Wenn der Bock zum Gärtner wird: Ein Star-Anwalt, der Opfer von Kindesmissbrauchs verteidigt, ist selbst pädophil – am meisten leidet seine Familie darunter. Dieses Psychodrama schildert der belgische Regisseur Joachim Lafosse so taktvoll wie raffiniert, mit mancher falschen Fährte.

Die Fassade stimmt: hübsche Villa, glückliche Familie, Erfolg im Beruf. Aber den Schein zu wahren, ist anstrengend. Diesen Kraftakt sieht man Astrid (Emmanuelle Devos) an: Ihre Augen sind müde, ihr Blick ist leer. Dreißig Jahre lang hat sie geschwiegen, um ihren Mann zu decken und zu schützen. Nie hat sie sich gegen ihn gestellt, nie etwas gesagt.

 

Info

 

Ein Schweigen

 

Regie: Joachim Lafosse,

120 Min., Belgien/ Frankreich 2023;

mit: Daniel Auteuil, Emmanuelle Devos, Jeanne Cherhal 

 

Weitere Informationen zum Film

 

Jetzt muss Astrid reden, wenn sie ihren Adoptivsohn retten will. Raphaël sitzt in Untersuchungshaft, weil er seinen Vater François (Daniel Auteuil) in der Nacht zuvor mit einem Messer angegriffen hat. Nun wird er wegen versuchten Mordes angeklagt werden. Die Polizei ermittelt; sie befragt auch Astrid.

 

Beweismittel-Überprüfung als Deckmantel

 

Der Fall ist kompliziert. Um genau zu sein: Es handelt sich um zwei Fälle. Denn Raphaël ist ausgerastet, weil François ein Pädophiler ist. Bisher konnte der prominente Anwalt seine fatale sexuelle Störung unter dem Deckmantel der Überprüfung von Beweismitteln geheim halten – denn François hat sich auf die Verteidigung von Missbrauchsopfern spezialisiert.

Offizieller Filmtrailer


 

Von hinten aufgerollter Verlauf

 

Nun sind die Behörden auch ihm auf die Schliche gekommen. Das Haus wird durchsucht, Astrid zieht mit Raphaël in ein Hotel. Doch der belgische Regisseur Joachim Lafosse erzählt die Geschichte nicht gradlinig, sondern rollt sie von hinten auf, um die Spannung möglichst lange zu halten. Der Film beginnt mit Raphaëls Festnahme, dann springt die Handlung zurück und rekonstruiert bruchstückhaft wichtige Situationen vor der Eskalation.

 

Zwar steht Astrid im Fokus des Dramas, doch es geht vor allem um die Männer in der Familie. François wird zunächst als Gutmensch eingeführt: als einsamer Streiter für Moral und Gerechtigkeit, der sich auch in den Medien zu präsentieren weiß. Lange ahnt in der Öffentlichkeit niemand, dass er selbst ein Täter ist.

 

Nach einer wahren Geschichte

 

Dabei wissen es mehrere: Neben Astrid ist ihre ältere Tochter Caroline (Louise Chevillotte) eingeweiht. Wütend und enttäuscht hält sie sich und ihren eigenen kleinen Sohn vom Vater fern. Sie steht fest auf der Seite von Astrids Bruder Pierre, der ebenfalls als Teenager von François missbraucht wurde. Angezeigt hat er ihn nie, aus Angst, man würde ihm nicht glauben.

 

Regisseur Lafosse verzichtet im Film auf den Hinweis, dass die Ereignisse auf wahren Begebenheiten beruhen: Konkret handelt es sich um das Verhalten von Rechtsanwalt Victor Hissel, der als Verteidiger der betroffenen Familien ab 2004 im Prozess gegen den belgischen Sexualstraftäter Marc Dutroux agierte. Sechs Jahre später stand Hissel wegen des Besitzes von kinderpornografischem Material selbst vor Gericht. Auch dass sein Sohn ihn umzubringen versuchte, entspricht den Tatsachen.

 

Verstrickungen + Andeutungen

 

Dieser Wahrheitsgehalt ist jedoch für die eindrucksvolle Wirkung des Films unerheblich. Als kluger Erzähler vertraut Lafosse auf die Kraft seiner Figuren und die Aufmerksamkeit der Zuschauer. Nicht immer ergeben alle Szenen sofort Sinn. Raffiniert legt der Regisseur auch falsche Fährten.

 

Die Entschlüsselung diverser Verstrickungen und Andeutungen macht den Reiz des Films aus. So wird Astrid im Halbschlaf am Pool plötzlich von Schuldgefühlen und ihrer inneren Last übermannt. Oder: Caroline wirft wortreich ihrer Mutter immer wieder sträfliche Verschwiegenheit vor – was verwirrt, bis man das Ausmaß der Tragödie erfasst.

 

Respektvoll distanzierte Kamera

 

Hintergrund

 

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Pierre, als Bruder der Mutter eigentlich eine Schlüsselfigur, bleibt eine Stimme am Telefon. Um so präsenter ist Daniel Auteuil in der Rolle des mächtigen Vaters, dem man den zwielichtigen Star-Anwalt in jeder Einstellung abnimmt. Dagegen spiegelt sich in Astrids Gesicht immer sichtbarer die Katastrophe; die jahrelange Vertuschung hat ihre Spuren hinterlassen, innerlich und äußerlich.

 

Lafosse greift in seinen Werken häufig gravierende psychische Probleme auf. Sein letzter Film „Die Ruhelosen“ (2021) handelte von einem Vater, dessen bipolare Störung zur schweren Belastung für die gesamte Familie wird – was der Regisseur mit Respekt und Distanz schildert. Auch in „Ein Schweigen“ drängt sich die Kamera nicht auf. Nur selten rückt sie dicht heran, um aus nächster Nähe die Abgründe hinter scheinbar harmlosen Minen bloßzulegen, die alle Beteiligten wie Masken tragen.

 

Am Ende zurück zum Beginn

 

Am Ende verdichtet sich das Geschehen auf die Zeit unmittelbar vor dem Attentat und schließt damit den Kreis zum Filmbeginn. Wie in einem klassischen Krimi werden Vater, Mutter und Kind getrennt voneinander verhört, wobei unangenehme Wahrheiten ans Licht kommen. Dabei gehört Astrid nach der ersten auch die letzte Einstellung; wieder konzentriert sich das ganze Unglück in ihren Augen. Sie hat die Fassade fallen gelassen, hat ihr Schweigen gebrochen – und muss mit den Folgen leben.