
Warum gibt es im deutschen Kino kaum geistreiche Komödien? Weil die hiesige Filmindustrie jeden guten Einfall zu Tode reitet. Das fängt beim Titel an, etwa für Lustspiel-Importe aus Frankreich: Nach dem Kassenschlager „Ziemlich beste Freunde“ (2011) folgten „Ziemlich dickste Freundinnen“ (2012), „Mein ziemlich kleiner Freund“ (2016) usw. Der Erfolgstitel „Monsieur Claude und seine Töchter“ (2014) wurde genauso abgekupfert: als „Mademoiselle Hanna und die Kunst, Nein zu sagen“ (2015), „Madame Christine und ihre unerwarteten Gäste“ (2017) etc.
Info
Die brillante Mademoiselle Neïla
Regie: Yvan Attal,
95 Min., Frankreich 2017;
mit: Daniel Auteuil, Camélia Jordana, Yasin Houicha
An Frankreichs bester Jura-Uni
So auch hier: Neïla Salah wohnt mit ihrer algerischen Mutter und Oma in der Pariser Retorten-Vorstadt Créteil, will aber hoch hinaus. Ihre Freunde aus Kindertagen jobben im Falafel-Imbiss oder als Taxifahrer, doch sie hat einen Studienplatz an der „Université Panthéon-Assas“ ergattert; deren Jura-Fakultät gilt als die beste in Frankreich.
Offizieller Filmtrailer
Rhetorik-Training oder Job-Verlust
Zur ersten Vorlesung kommt sie zu spät; Professor Pierre Mazard (Daniel Auteuil) nimmt sie mit rassistischen Bemerkungen aufs Korn. Großes Hallo unter den Studenten, eine Handy-Aufnahme des Vorfalls landet im Internet, und Mazard wird zum Uni-Präsidenten zitiert. Der macht ihm klar, dass sein zynisches Auftreten untragbar sei und er seine Entlassung riskiere – es sei denn, er nehme Neïla unter seine Fittiche und trainiere sie für den landesweiten Rhetorik-Wettbewerb, damit sie ihn für Panthéon-Assas gewinne.
Solche Uni-Redeschlachten gibt es hierzulande ebenso wenig wie einen nationalen Bildungs-Kanon. Doch in Frankreich ist die gesamte akademische Sphäre in Wettbewerben („Concours“) organisiert, und ohne solide Kenntnisse klassischer Texte aus Philosophie und Literatur („Culture générale“) kann keiner sein Abitur ablegen. Deshalb lässt sich Neïla bald darauf ein, vom arroganten, aber hochgebildeten Professor gecoacht zu werden. Und Mazard entdeckt trotz seiner Vorurteile gegen plebejische Maghreb-Teenager Neïlas Talent als Rednerin – und fördert es eifrig.
Baudelaire im Hörsaal, Shakespeare in der Metro
Das könnte eine kreuzbrave Multikulti-Lehrstunde mit rührseliger Toleranz-Botschaft werden. Doch dafür ist Regisseur Yvan Atall, selbst Sohn jüdischer Auslands-Franzosen aus Algerien, viel zu anspruchsvoll. Er strich aus dem Drehbuch politisch korrekte Klischees, etwa einen jüdischen und homosexuellen Freund von Neïla, und ersetzte sie durch realistisch ambivalentere Elemente. Die Heldin eilt nicht von Erfolg zu Erfolg, sondern droht oft zu scheitern: am Neid ihres Herkunftsmilieus, am Dünkel ihrer Konkurrenten – und vor allem an eigenen Gefühlswallungen.
Hintergrund
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und hier eine Besprechung des Films “Monsieur Claude und seine Töchter” – französische Multikulti-Komödie von Philippe de Chauveron
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Meister trotz moralischem Kater
So erzählt der Regisseur seine geläufige Aufsteiger-Fabel mit allerlei überraschenden Haken und Ösen; gespickt mit elegant zugespitzten Dialogen und Bonmots – es geht ja um Redekunst. Sie verhehlen auch die Nebenwirkungen von Wortgewalt nicht: „Wenn wir uns zu gut ausdrücken, wissen wir irgendwann nicht mehr, wie wir Dinge einfach sagen sollen“, räumt der beredte Einzelgänger Mazard ein. Selbstverliebte Brillanz lässt vereinsamen.
Zur intellektuellen Redlichkeit dieser feinsinnig ausbalancierten Dramödie trägt auch bei, dass Atall dem Publikum ein konventionelles Happy End erspart. Die Protagonisten berauschen sich nicht an ihrem Idealismus, sondern durchschauen, dass sie einander für durchaus eigennützige Zwecke einspannen; samt moralischem Kater. Und am Ende zählt nicht irgendein flüchtiger Wettbewerbs-Triumph, sondern Neïlas Zulassung als Anwältin – die sich von ihren Mandanten förmlich als „Maître“ anreden lässt, also als „Meister“.