Wer im Oktober 1962 17 Jahre alt war, konnte noch nicht der Beatlemania verfallen; die Beatles veröffentlichten gerade ihre erste Single. Wenn Ginger (Elle Fanning) Musik hören will, legt sie «Take Five» von Dave Brubeck auf, das meistverkaufte jazz instrumental der Welt. Oder damalige Hits von Thelonius Monk und Miles Davis: cool jazz was king.
Info
Ginger & Rosa
Regie: Sally Potter
90 Min., Großbritanien 2012;
mit Elle Fanning, Alice Englert und Alessandro Nivola
Rauchen + mit Jungs knutschen
Hier wachsen Ginger und Rosa (Alice Englert) auf. Sie kichern und kuscheln miteinander, probieren Klamotten an, rauchen die ersten Zigaretten und knutschen mit Jungs in dunklen Gassen – was beste Freundinnen in diesem Alter eben so machen. Ihre Freundschaft wird allerdings eher in Schlüsselszenen abgehakt als durch innige Gemeinsamkeit beglaubigt.
Offizieller Filmtrailer
Als Kriegsdienst-Verweigerer im Knast
Rosas Vater hat ihre Mutter verlassen; seitdem träumt die Tochter von der großen Liebe. Ginger erlebt dagegen Streit-Szenen einer Ehe mit: Mutter Nathalie (Christina Hendricks), die früher malte, ist jetzt frustrierte Nur-Hausfrau. Vater Roland (Alessandro Nivola) war im Gefängnis, weil er den Kriegsdienst verweigerte.
Nun schreibt er freigeistige Bücher und pflegt den Lebensstil eines existentialistischen Bohemien. Von seiner Arbeit an der Uni sieht man nur, wie er mit blonden Studentinnen im Jeep vorbeibraust. Dieser Proto-Rudi Dutschke ermutigt seine Tochter, Autoritäten abzulehnen und sich politisch zu engagieren.
Affäre löst familiäre Katastrophe aus
Plötzlich verkündet das Radio schlechte Nachrichten: In der Kuba-Krise spitzt sich die Block-Konfrontation zu; die Welt steht am Rand eines Atomkriegs. Ginger fürchtet das Schlimmste, nimmt an Protest-Zirkeln und Anti-Atombomben-Demos teil oder schreibt apokalyptische Verse. Rosa mag da nicht mittun; sie betet lieber.
Und verguckt sich in Roland, der ihre Zuneigung erwidert; zu dritt gehen sie segeln. Als ihr Vater anschließend ihre Freundin mit ins Bett nimmt, wird es Ginger zuviel: Was eine Kettenreaktion auslöst, die das Familienleben so verwüstet wie eine nukleare Katastrophe.
68er-bashing auf Britisch
Mit ihrem Film beschwört die 1949 in London geborene Regisseurin Sally Potter die Lebenswelt ihrer Jugend herauf: ein akademisch-linksliberales Milieu, das Jazz hörte, Rollkragenpullis trug, sich für Frauenemanzipation stark machte und die frühe Friedensbewegung organisierte – ähnlich den Ostermarschierern in Westdeutschland.
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Kritik des Films "Quellen des Lebens" von Oskar Roehler - seine Familiengeschichte als Zeitgeist-Panorama der 1950er bis 1970er Jahre
und hier eine Besprechung des Films "The Deep Blue Sea" mit Rachel Weisz über eine Frau zwischen zwei Männern in Englands Nachkriegszeit
und hier einen Beitrag über den Film "Attenberg" von Athina Rachel Tsingarai über eine Mädchen-Freundschaft in Griechenlands Dauerkrise.
Politisch-privater Zickzackkurs
Aber keine anrührende coming of age story. Zwar dreht sich alles um Ginger, die Elle Fanning bewundernswert nuanciert verkörpert; Rosa bleibt nur ein sidekick. Doch der Film springt unvermittelt von Szene zu Szene. Er ist zu politisch, um plausibel eine éducation sentimentale zu erzählen, und zu privat, um ein Panorama des Zeitgeistes Anfang der 1960er Jahre zu entfalten.
Auf diesem Zickzackkurs bleiben die Empfindungen der Hauptfiguren trotz zahlloser close-ups auf ihre Gesichter unsichtbar. Nie wird deutlich, was es eigentlich heißt, jung zu sein: welche aufwallenden Launen, überschäumendes Hoffen und Bangen die Seelenregungen von Teenagern beherrschen. Regisseurin Potter hat look and sound der Epoche detailgetreu rekonstruiert, doch nicht ihr Lebensgefühl: a feeling lost forever.