Auf der diesjährigen Berlinale liefen im Wettbewerb allein fünf Filme östlicher Provenienz. Spätestens dadurch dürfte dem letzten Zweifler aufgegangen sein, dass das osteuropäische Kino die Nachwende-Agonie trotz teils miserabler Produktionsbedingungen überstanden hat.
Info
Tilt
Regie: Viktor Chouchkov Jr.,
97 min., Bulgarien 2011;
mit: Yavor Baharoff, Radina Kardzhilova, George Staykov
Jugend in Sofia genießen
Eigentlich erzählt Viktor Chouchkov Jr. in seinem Debütfilm eine unspektakuläre Geschichte. Herbst 1989: Draufgänger Stash (Yavor Baharoff) und seine Kumpels Gogo (Ovanes Torosyan) und Angel (Ivaylo Dragiev) genießen in Sofia ihre Jugend.
Offizieller Filmtrailer
Wie beim Flippern, wenn nichts mehr geht
Sie träumen von der großen Freiheit und ihrer eigenen Bar, die sie gemeinsam aufmachen wollen. Dort soll es gute Musik geben und Spielautomaten, wie im Westen. Der Name ist auch klar: «Tilt», wie die Anzeige beim Flipperautomaten, wenn nichts mehr geht. Ihr Geld verdienen sie mit krummen Geschäften, immer auf der Hut vor der allgegenwärtigen Staatsmacht.
Eines Tages begegnet Stash der geheimnisvollen und rebellischen Becky (Radina Kardzhilova) – und verliebt sich sofort in sie. Was er nicht ahnt: Sie ist Tochter des hochrangigen Funktionärs Kotev (George Staykov), der von dieser Verbindung überhaupt nicht begeistert ist.
Freundin bleibt an der Grenze hängen
Prompt werden die Jungs verhaftet und nur unter der Bedingung freigelassen, dass sich Stash und Becky nie wiedersehen. Aber dafür ist die Liebe zu groß. Das Paar schmiedet Fluchtpläne, denn inzwischen ist die innerdeutsche Mauer gefallen und der Weg Richtung Westen frei. Der endet aber für Becky an der Grenze; dafür hat ihr Vater gesorgt, und Stash muss alleine weiterfahren.
In Westdeutschland angekommen, schlägt er sich mit miesen Jobs durch und versucht immer wieder, mit Becky Kontakt aufzunehmen – vergebens. Als einige Zeit verstrichen ist, kehrt er nach Sofia zurück und muss feststellen, dass sich nicht nur das Land rasant geändert hat, sondern auch seine Freunde und nicht zuletzt Becky. Nur ihr korrupter Vater schwimmt immer noch oben mit und vergisst nie eine offene Rechnung.
Umwälzungen im Privaten
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit
Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "Stille Seelen - Ovsyanki" von Alexej Fedorchenko über Liebe + Tod in Russland
und hier ein Bericht über den Film "Periferic Outbound" von Bogdan George Apetri über eine Knast-Freigängerin in Rumänien
und hier eine Rezension des Films "Police, adjective" - rumänischer Neorealismus-Film von Corneliu Porumboiu
Freilich steht die tragische Liebesgeschichte im Vordergrund. Jedoch erzählt der Film atmosphärisch dicht und detailgenau auch vom traurigen Wandel einer anfänglich unzerstörbar erscheinenden Freundschaft. So muss Stash nicht nur verwinden, dass Beckys Gefühle sich gewandelt haben, sondern auch, dass seine Freunde des Geldes wegen sogar dem einstigen Feind zuarbeiten.
Leichtigkeit + feiner Humor
Trotz aller Schwere des Themas hat der Film aber eine wunderbare Leichtigkeit und feinen Humor. Dazu kommt noch das mitreißende Spiel der durchweg hervorragenden Darsteller, allen voran Yavor Baharoff als verliebter Hansdampf Stash und George Staykov als väterlicher Fiesling.
Beide nehmen ihre Figuren gebührend ernst und geben sie nie der Lächerlichkeit preis. Von einem kleinen bulgarischen Kinowunder zu sprechen, wäre übertrieben. Doch «Tilt» lässt auf weitere gute, originäre Geschichten aus diesem Land hoffen.