Für gläubige Christen ist Bethlehem der Geburtsort des Erlösers; so steht es in der Bibel. Heute liegt die Stadt südlich von Jerusalem im israelisch besetzten Westjordanland. Dort lebt der 17-jährige Sanfur (Shadi Mar’i). Sein älterer Bruder Ibrahim (Tarek Copti) ist ein wichtiger Mann im palästinensischen Widerstand.
Info
Bethlehem
Regie: Yuval Adler
99 Min., Israel 2013
mit: Tsahi Halevi, Shadi Mar'i, Hitham Omari
Führungsoffizier schenkt Vertrauen
Razi nennt Sanfur „Habibi“ – das arabische Wort für „Freund“ oder „Liebling“ – und schenkt ihm etwas, was sein abwesender Bruder, der von Versteck zu Versteck eilt, ihm nicht geben kann: Achtung, Aufmerksamkeit und Vertrauen. Doch die psychische Belastung seines Doppellebens zehrt sichtlich an dem Jungen; bald ahnt man, dass diese Konstellation böse enden wird.
Offizieller Filmtrailer
Ohne Moral-Urteile zeigen, was ist
Der Weg in die Katastrophe verläuft verschlungen und voller Wechselfälle. Dabei bietet der Film einen spannenden, aufschlussreichen und durchaus verstörenden Blick auf die Fronten im festgefahrenen Kleinkrieg zwischen Israelis und Palästinensern. Seine analytische Perspektive, die sich aller moralischen Urteile und Rechtfertigungen enthält, ist in der sonstigen Medien-Berichterstattung, dokumentarischen oder künstlerischen Annäherung an den Konflikt selten.
„Bethlehem“ zeigt mit den Mitteln des Spielfilms schlicht, was ist. Etwa in der nüchternen Darstellung, wie der israelische Geheimdienst arbeitet und auf individuelle Befindlichkeiten keinerlei Rücksicht nimmt: Regisseur Yuval Adler schöpft dabei aus eigenen Beobachtungen beim Nachrichtendienst, für den er tätig war.
Guerilla-Gruppen streiten um Leichen
Drehbuchautor Ali Waked lässt dagegen seine Erfahrungen als politischer Journalist und Aktivist im Westjordanland einfließen. Sein Skript schenkt auch der palästinensischen Seite nichts: Die einzelnen Fraktionen der Guerilla konkurrieren bis zur Selbstzerstörung um EU-Gelder, Führungsrollen, Medienpräsenz und Deutungshoheiten. So machen sich bewaffnete Gruppen rücksichtslos die Leiche eines „Märtyrers“ streitig.
An solchen Stellen gönnt sich der Film hin und wieder grimmigen Humor, bevor das Unheil ungemindert seinen Lauf nimmt. Im Mittelpunkt stehen aber die Charaktere, die von dieser mörderischen Logik zerrieben werden; dank einer vorzüglichen Besetzung der Hauptrollen.
Laien-Darsteller hat Intifida miterlebt
Allen voran beeindruckt Shadi Mar’i in der Rolle des zerrissenen Informanten: dem Talent aus einer lokalen Theatergruppe steht der Stress seines Balanceaktes und damit verbundene, diffuse Hoffnungen in jeder Sekunde ins Gesicht geschrieben. Als palästinensischer Kämpfer beeindruckt Haitham Omar; er hat zwar keine Erfahrung als Schauspieler, aber zwei Intifadas auf der Westbank miterlebt. Omar gibt seiner Figur unmittelbare, charismatische Präsenz.
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit
Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "Zaytoun" - über eine palästinensisch-israelische Freundschaft im Nahost-Konflikt von Eran Riklis
und hier eine Rezension des Films “Art Violence” - Dokumentation über das palästinensische Freedom Theatre von Udi Aloni, Batoul Taleb und Mariam Abu Khaled
und hier einen Bericht über den Film “Das Schwein von Gaza” – Tragikomödie über Viehzucht im Gaza-Streifen von Sylvain Estibal
Aufgezwungene Rollen ohne Entkommen
Razi ist ein sensibler Ehemann mit schönen traurigen Augen. Angesichts des Dilemmas seines Ersatzsohnes, der ihm durchaus ähnlich sieht, muss sich Razi seine Lebenslüge eingestehen: Er hat bei der Arbeit erworbene Kenntnisse der arabischen Sprache und Lebensweise mit Empathie verwechselt – womit er letztlich das Leben jener zerstört, denen er dabei zu nahe kommt.
Nach dem routiniertem Rührstück „Zaytoun“ des israelischen Regisseurs Eran Riklis und der auf Bully-Herbig-Niveau nervenden Klamotte „45 Minuten bis Ramallah“ von Ali Samadi Ahadi wurde es Zeit für einen solchen Film. „Bethlehem“ benutzt den Nahost-Konflikt nicht als perpetuum mobile für Klischees, Ressentiments und Phrasen, sondern interessiert sich für die Menschen, für die der Ausnahmezustand zur Normalität geworden ist.
In diesem Film gibt es weder folternde Sadisten noch fanatische Selbstmordattentäter mit rollenden Augen. Nur Leute, die in der mörderischen Dynamik des Konflikts ihre jeweiligen Rollen spielen, weil sie müssen – und feststellen, dass es daraus kein Entkommen gibt.