Bei der Schweiz denkt man vor allem an Berge, Banken und Luxusuhren. Kaum jemand würde vermuten, dass gerade hier ein kleiner, feiner Zirkel schwuler Aktivisten entstand; er gilt heute als Wegbereiter der großen Homosexuellen-Bewegung ab den 1970er Jahren. Seine Geschichte hat Regisseur Stefan Haupt als Dokudrama so lehrreich wie kurzweilig verfilmt; dafür gab’s auf der Berlinale den Panorama-Publikumspreis.
Info
Der Kreis
Regie: Stefan Haupt
102 Min., Schweiz 2014;
mit: Matthias Hungerbühler, Sven Schelker, Marianne Sägebrecht
2000 Heft-Abos in Europa + USA
Erstmals unabhängig vom strengen Elternhaus, wohnt er in seiner eigenen Bude zur Untermiete. Bald wird er in das Redaktionsbüro der Zeitschrift „Der Kreis“ eingeführt. Dort gibt ein verschworener Klub schöngeistiger Schwuler ein Mitglieder-Magazin mit Kurzgeschichten, Lyrik und homoerotischen Fotos heraus; Vorläufer des Heftes existieren seit 1932. Es hat rund 2000 Abonnenten und wird in viele Länder Europas sowie die USA verschickt – im neutralen Umschlag.
Offizieller Filmtrailer
Rauschende Bälle mit 800 Gästen
Gründer und Chefredakteur Klaus Meier, ein populärer Schauspieler, agiert in einer Grauzone. Zwar ist in der Schweiz Homosexualität seit 1942 legal, aber die gesellschaftliche Toleranz dafür minimal. Die Kreis-Aktivisten führen ein Doppelleben und betreiben ständiges Versteckspiel: Sie benutzen Pseudonyme und nummerierte Mitgliedsausweise. Den versteckt Ernst sorgfältig vor seiner Zimmerwirtin.
Auf einem der rauschenden Bälle des Kreises, zu dem bis zu 800 Gäste aus ganz Europa anreisen, begegnet er Röbi Rapp (Sven Schelker). Der Friseurlehrling, Sohn einer in die Schweiz ausgewanderten Deutschen (warmherzig: Marianne Sägebrecht), tritt auf dem Ball als Travestie-Diseuse auf. Ernst ist sofort Feuer und Flamme für den hübschen Paradiesvogel. Beide kommen sich näher; ihre Partnerschaft hält bis heute.
Wochenend-Tourismus aus Nachbarländern
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier einen Bericht über den Film "Sag nicht wer du bist!" - schwuler Psychothriller von Xavier Dolan
und hier einen Beitrag über den Film “Der Fremde am See” – schwuler Kammerspiel-Thriller von Alain Guiraudie
und hier eine Besprechung der Doku “Sagrada – Das Wunder der Schöpfung” über den Bau der Sagrada Familia in Barcelona von Stefan Haupt.
Allerdings bleiben die Zeiten nicht lange rosig. Als 1959 ein bekannter Komponist ermordet wird, gerät die Szene ins Visier der Kripo: Der Täter kommt aus dem Stricher-Milieu. Bald müssen sich alle Homosexuellen registrieren lassen. Im Folgejahr untersagt der Stadtrat Bälle, auf denen Männer miteinander tanzen; damit verliert der Kreis seine wichtigste Einnahmequelle. 1961 wird das Vereinslokal geschlossen, sechs Jahre später die Zeitschrift eingestellt. Die Repressionen gegen Schwule endet erst Ende des Jahrzehnts durch Studentenkrawalle – nun hat die Polizei anderes zu tun.
Zwischen Klappen + Razzien
Aufstieg und Niedergang dieser Proto-Emanzipationsbewegung erzählt Regisseur Haupt detailreich und plastisch; so wird anschaulich, wie vor einem halben Jahrhundert schwules Nacht- und Liebesleben zwischen Klappen und Razzien verlief. Dabei stehen ihm mit Ernst und Röbi zwei liebenswürdige und beredte Zeitzeugen zur Seite; sie führen mit ihren Erinnerungen durch den Film.
Eine rundum gelungene Hommage an eine frühe schwule Selbsthilfe-Organisation, die zum Vorbild für viele andere weltweit wurde, und an ein außergewöhnliches Paar: Es war das erste, das sich 2003 in der Schweiz standesamtlich registrieren ließ.