Love it or leave it: Am kanadischen Regisseur Guy Maddin scheiden sich die Geister. Viele Cineasten können mit seinem überbordenden Gesamtwerk – er hat seit 1985 elf Spiel- und rund 50 Kurzfilme gedreht – wenig bis nichts anfangen. Dagegen begeistert sich eine wachsende Fangemeinde für jede neue Arbeit des Filmemachers; zu ihr zählen Star-Schauspieler wie Isabella Rossellini und Udo Kier, die schon bei Vorführungen als live-Erzähler auftraten.
Info
The Forbidden Room
Regie: Guy Maddin + Evan Johnson,
120 Min., Kanada 2015;
mit: Mathieu Amalric, Charlotte Rampling, Geraldine Chaplin
Keine Knallcharge ist zu klischeehaft
Gegenwärtig ist in seinen Filmen höchstens die Handlung. Wobei er das Personal auch aus der Kinogeschichte rekrutiert, vorzugsweise aus B-pictures: die verfolgte Unschuld, der wackere Retter, das glibberige Gummimonster, der wahnsinnige Wissenschaftler oder gewissenlose gangster – keine Knallcharge ist Maddin zu klischeehaft. Die Konflikte, in die er sie stürzt, hätten damals allerdings kaum die Zensur passiert: Häufig geht es um psychische Abgründe und sexuelle Perversionen – die er so grotesk wie jugendfrei ins Bild setzt.
Offizieller Filmtrailer OV
Im Schwarzwald von Holstein-Schleswig
Seit einigen Jahren dreht der Filmemacher mit Digital- anstatt alter Analog-Technik; paradoxerweise erscheint nun sein retromania look noch authentischer. Wie sehr er ihn mittlerweile vervollkommnet hat, kann man in „The Forbidden Room“ bestaunen: Hier zieht Maddin mit seinem Ko-Regisseur Evan Johnson wirklich alle Register – quasi als best of seines bisherigen Schaffens.
Er verschachtelt ein halbes Dutzend Geschichten wie Matrjoschka-Puppen ineinander; angeblich stammen sie aus Drehbüchern verschollener Spielfilme. Zum Auftakt erklärt ein feister Morgenmantel-Träger die Kunst des Badens. In einem U-Boot, das zu explodieren droht, futtern die Matrosen Pfannkuchen voller Luftblasen, um knappen Sauerstoff zu sparen. Ein Holzfäller taucht auf, der im Schwarzwald von Holstein-Schleswig die Höhlen-Braut Margot (Clara Furey) aus den Fängen einer Räuberbande befreien will.
Schnelle Schnitte wie in video clips
Dann rumpelt der „Deutsch-Kolumbianisch Express“ über die Leinwand: Im Zug verführt ein Psychiater die Schöne im Nebenabteil. Sie wird auf einer Südsee-Insel des Tintenfisch-Diebstahls beschuldigt; ein Pappmaché-Vulkan spricht das Urteil. Ein Chirurg wird von tanzenden Skeletten in ein giftiges Ganzkörper-Kostüm gezwungen; Charlotte Rampling und Geraldine Chaplin haben Kurzauftritte als fiese Greisinnen. Udo Kier lässt sich im Hirn herumwühlen, um seine Fixierung auf Hintern loszuwerden; dann wird er von Mathieu Amalric erschossen usw.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films „Von Caligari zu Hitler“ über "Das deutsche Kino im Zeitalter der Massen" – Essayfilm über die Stummfilm-Ära der Weimarer Republik von Rüdiger Suchsland
und hier eine Besprechung des Films „The Artist“ – brillantes Stummfilm-Remake von Michel Hazanavicius, 2012 mit fünf Oscars prämiert
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Afterimages" – schöne Überblicks-Schau zur "Schwarzen Romantik in der Film- und Videokunst" mit dem Beitrag "Stille Nacht III" der Quay Brothers in der Kunstsammlung Jena
und hier einen Bericht über die Ausstellung „Bewusste Halluzinationen – Der filmische Surrealismus“ im Deutschen Filmmuseum, Frankfurt/Main.
Neues Klappergestell in jeder Kurve
Wie diese erzählt der Film keine Handlung, sondern entfesselt ein Bildergewitter aus effektvollen Schlaglichtern; inhaltlichen Zusammenhang sollen Zwischentitel simulieren. Das ergibt nicht einmal eine durchkomponierte Nummernrevue: Die Episoden fangen abrupt an, fransen irgendwie aus, werden später wieder herbeizitiert oder auch nicht – völlig egal. Hauptsache, spektakuläre Schauwerte kitzeln die Netzhaut. Anders bei den ähnlich arbeitenden Quay Brothers: Ihre Filme rekonstruieren nicht nur die Anmutung, sondern auch den esprit der Stummfilmzeit.
So wird „The Forbidden Room“ zur zweistündigen Rundfahrt durch die Geisterbahn der frühen Kinogeschichte: In jeder Kurve hüpft rasselnd ein neues Klappergestell hervor – manche possierlich, andere gar schröcklich anzusehen. Dabei mögen Kinematheken-Archivare und movie buffs zahllose Anspielungen auf bekannte oder fast vergessene genre-Klassiker entdecken. Alle anderen amüsieren sich über solchen Rummelplatz-Mummenschanz – mehr oder weniger: this is pure eye candy – take it or leave it!