
Am Abendhimmel zieht eine Zirruswolke vorüber und zerschneidet optisch den Mond; ein Rasiermesser zerschneidet scheinbar real das Auge einer Frau. Diese lockere Assoziationskette ist fast kulturelles Allgemeingut geworden: Es ist die berühmt-berüchtigte Sequenz aus dem Kurzfilm „Ein andalusischer Hund“. Damit hatten die beiden Spanier Luis Buñuel und Salvador Dalí 1929 in Paris für enormes Aufsehen gesorgt. Nun steht der 16-minütige Streifen im Zentrum dieses Rückblicks auf den filmischen Surrealismus.
Info
Bewusste Halluzinationen - Der filmische Surrealismus
25.06.2014 - 02.11.2014
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr,
mittwochs bis 20 Uhr
im Deutschen Filmmuseum, Schaumainkai 41, Frankfurt/Main
Aus Paris in die ganze Welt
So, wie die Mehrfach-Projektion auf jeder folgenden Leinwand schwächer wird, strahlte die in Paris entstandene Bewegung europa- und weltweit aus – sie verlor jedoch mit wachsender Entfernung vom Entstehungsort an Intensität und Einfluss. Im benachbarten Belgien gab es eine größere Bewegung mit noch heute berühmten Künstlern. In Osteuropa war der Einfluss des Surrealismus deutlich schwächer. Außerhalb von Europa waren ihm nur vereinzelte – oft aus Europa emigrierte – Künstler verbunden.
Interview mit Kuratorin Stefanie Plappert + Impressionen der Ausstellung; © rheinmaintv
Vitrinen-Tisch auf Menschenbeinen
Wie sich die Bewegung ausbreitete, stellt eine große Tafel detailliert dar. Um sie herum sind verschiedene Länderschauen gruppiert, die sich durch surreales Ausstellungsdesign voneinander abgrenzen. Da gibt es Glasvitrinen, die durch weiße Schnüre in der Luft und Streifen auf dem Boden miteinander verknüpft sind. Eine anderer Vitrinen-Tisch wird durch Beine im Wortsinne getragen; es sind gehende Menschenbeine. Eine Sektion lässt sich nur durch Gucklöcher in der Wand erspähen; daneben hängen Exponate wie Kleidungsstücke an einer Wäscheleine.
In jeder Abteilung sind zudem Ausschnitte aus surrealistischen Filmen des jeweiligen Landes zu sehen sind. Naturgemäß entpuppt sich Frankreich als Zentrum des Kino-Schaffens: Zehn verschiedene Filmschnipsel zwischen zwei und fünf Minuten Länge laufen in Endlosschleife. Etwa Germaine Dulacs „Die Muschel und der Kleriker“ von 1928 mit einer damals schockierenden Szene: Der Geistliche greift einer Dame an die entblößte Brust. Solche Höhepunkte sind allerdings in eine Reihe weniger interessanter Filme eingebettet.
Schwebende Hüte wie bei René Magritte
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Besprechung der Ausstellung “Der Stachel des Skorpions” – sechs surreale Film-Installationen als “Cadavre exquis nach Luis Buñuels »L’Âge d’or«” in München + Darmstadt
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Hans Richter - Begegnungen: Von Dada bis heute" - große Retrospektive des Multimediakunst-Pioniers im Martin-Gropius-Bau, Berlin
und hier eine Rezension der Ausstellung "Halluzinierte Welt - Malerei am Rande der Wirklichkeit" von elf zeitgenössischen Künstlern im Haus am Lützowplatz, Berlin.
Außerdem wird deutlich, dass sich der Surrealismus im Kino bereits in den 1930er Jahren auch in Ländern verbreitet hat, die man nicht sofort mit dieser Bewegung assoziieren würde, etwa der Tschechoslowakei: Dort lebt er im Schaffen von Filmemachern wie Jiří Menzel bis heute fort.
Eisensteins surreale Ekstase in Mexiko
Selbst der legendäre russische Regisseur Sergej Eisenstein hatte eine kurze surreale Phase: In Mexiko drehte er 1930/31 wild drauf los, bis ihn nach 50 Stunden Rohaufnahmen seine erbosten Geldgeber nach Moskau zurückschickten. Eisenstein stellte seinen wüsten Pseudo-Dokumentarfilm mit dem Arbeitstitel „¡Que viva México!“ nie fertig: In Stalins Sowjetunion galt das Dogma des Sozialistischen Realismus.
Solche skurrilen Überraschungen bleiben jedoch Einzelfälle. Insgesamt belegt die Schau, dass die Geschichte der klassischen Phase des Surrealismus nicht umgeschrieben werden muss. Was jedoch der Ausstellung eindeutig fehlt, ist der Bezug zur Gegenwart: Surreal anmutende Werke seit 1970 bis zur Gegenwart sind nur in der begleitenden Filmreihe zu sehen – teilweise ausgewählt von Machern der parallel laufenden Schau „Der Stachel des Skorpions“ in Darmstadt, einer Hommage heutiger Künstler an den Klassiker „L’Âge d’or“(„Das goldene Zeitalter“) von Luis Buñuel.