
Mit Philosophie seinen Lebensunterhalt verdienen? In Frankreich geht das: Ohne Grundkenntnisse in Philosophie-Geschichte kann kein Schüler das Abitur ablegen. Entsprechend groß ist der Bedarf an Gymnasiallehrern, die das Fach unterrichten – und professeur de philosophie ein völlig normaler Beruf.
Info
Alles was kommt -
L'Avenir
Regie: Mia Hansen-Løve,
100 Min., Frankreich/ Deutschland 2016;
mit: Isabelle Huppert, André Marcon, Roman Kolinka
Stets drei Dinge zugleich machen
Ein geruhsames Theoretiker-Dasein voller Lektüre und Kontemplation? Alles andere als das; Nathalie ist dauernd in Eile oder auf dem Sprung. Es gibt immer viel zu tun: Ihre demente und depressive Mutter Yvette (Edith Scob) nervt mit nächtlichen Anrufen, wenn sie Panikattacken bekommt, oder wenn sie ohne Anlass die Feuerwehr alarmiert. Ihr Verlag will Lehrbücher und Schriftenreihe aktueller gestalten, was Nathalie als effekthascherisch ablehnt. Dann überrumpelt ihr Mann sie auch noch mit der Enthüllung, dass er eine andere Frau liebt und zu ihr ziehen wird.
Offizieller Filmtrailer
Alle Zutaten für midlife crisis beisammen
Nathalies bislang wohlgeordnetes Leben scheint sich aufzulösen. Doch die power-Frau lässt sich nicht unterkriegen: Mama wird im Altersheim untergebracht, dem Verlag zeigt sie die kalte Schulter, und bei Fabien sucht sie Gedankenaustausch und moralische Unterstützung. Was nicht recht klappen will: Er wohnt mittlerweile auf dem Bauernhof in einer Kommune, die Öko-Landbau betreibt und anarchistische Traktate herausgibt. Seiner Ex-Lehrerin hält er vor, dass sie bei aller geistigen Freiheit sich im Komfort der bourgeoisie bequem einrichte.
Alle Zutaten für eine handfeste midlife crisis sind beisammen, doch Mia Hansen-Løve macht wenig daraus. Die französische Regisseurin dänischer Abstammung beobachtet häufig Menschen in Lebenskrisen: In „Der Vater meiner Kinder“ (2009) ging es um eine Familie, die den Freitod ihres Ernährers verkraften muss; in „Eden“ (2014) um einen DJ, der in der Pariser house club-Szene versackt.
Gelehrtes name dropping im feuilleton
„Alles was kommt“ ist ganz auf Isabelle Huppert zugeschnitten. Sie spielt die patente Lehrerin formidabel mit nimmermüdem Elan und schnippischer Verve, doch das Drehbuch gibt ihr keine Entwicklungsrichtung vor. Stattdessen übt sich die Regisseurin in visuellem Aktionismus: Die Kamera steht kaum still, ständig schwenkt und gleitet sie herum. Schnelle Schnitte und rasche Szenenwechsel sorgen für hohes Tempo, das aber bald – wie jeder hochtourige Leerlauf – eher ermüdet.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films „Mein liebster Alptraum“ – sozialutopische Liebes-Komödie von Anne Fontaine mit Isabelle Huppert
und hier eine Besprechung des Films “Die wilde Zeit – Après Mai” – präzise Sozialstudie der französischen Jugend um 1970 von Olivier Assayas
und hier einen Beitrag über den Film "Die Schüler der Madame Anne" – französisches Erziehungs- Drama von Marie-Castille Mention-Schaar
und hier einen kultiversum-Bericht über den Film "Der Vater meiner Kinder" - anrührendes Familiendrama über einen Filmemacher-Freitod von Mia Hansen-Løve.
Identifikationsfigur für Intellektuelle
Zugleich wirft der Film auch Schlaglichter auf linkes Denken im heutigen Frankreich. Streikende Schüler protestieren lautstark gegen Arbeitsmarkt-Reformen und verlangen dieselbe soziale Absicherung wie für ihre Eltern-Generation, was das Lehrer-Paar Gazeau mit Schulterzucken quittiert. Doktorand Fabien wirkt wie ein 68er-Widergänger, wenn er nach der Einheit von Theorie und Praxis sucht. Oder mit seinen Genossen darüber streitet, ob politische Pamphlete individuell oder kollektiv formuliert werden sollten; auch das lässt Nathalie kalt.
All dies wird nur gestreift und dann achtlos liegen gelassen. Dass der Film im Berlinale-Wettbewerb bei der Kritik gut ankam, dürfte an der Hauptfigur liegen: Mit ihren Sorgen und Reaktionen können sich gesetzte Intellektuelle, die ihre Tage mit Texten und Diskussionen zubringen, blendend identifizieren.
Silberner Bär als Förderpreis
Dennoch bietet „Alles was kommt“ keine „Zukunft“, wie der französische Titel übersetzt lautet, sondern eine zwar präzise, aber sterile Selbstbespiegelung des Akademiker-Milieus. Insofern darf der Silberne Bär für die beste Regie, den Mia Hansen-Løve erhielt, als Förderpreis gelten: Für ihren nächsten Film sollte sie einen Skript-Autor engagieren, der für gute Geschichten prämiert worden ist.