
Der niederländische Regisseur Paul Verhoeven ist vor allem für seine genre-Filme aus den 1990er-Jahren bekannt: Vom experimentierfreudiger science fiction wie „Total Recall – Die totale Erinnerung“ (1990) bis zu action trash wie „Starship Troopers“ (1997). 2005 kehrte Verhoeven nach Europa zurück. Seinen neuen Film „Elle“ dreht er erstmals in Frankreich, mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle.
Info
Elle
Regie: Paul Verhoeven,
130 Min., Frankreich/ Deutschland/ Belgien 2016;
mit: Isabelle Huppert, Laurent Lafitte, Anne Consigny
Nichts anmerken lassen
Michèle wohnt allein mit Katze in einem großen Haus im Vorort mit netten Nachbarn. Ein wohlgeordnetes bürgerliches Leben, das jedoch – wie sich später zeigen wird – hart erkämpft ist. Eines Tages steht ein Mann mit Maske vor der Tür, drängt sie ins Haus und vergewaltigt sie. Danach macht sie zunächst weiter wie bisher. Ihren Freunden und ihrer Familie gegenüber erwähnt sie die Tat erst Tage später, wie nebenbei.
Offizieller Filmtrailer
Stabiles Leben wankt
Dass sie sich weigert, die Polizei einzuschalten, liegt an ihrer verdrängten Vergangenheit, die vom Überfall eingeholt wird. Als sie zehn Jahre alt war, ermordete ihr Vater scheinbar unmotiviert mehrere Nachbarn; er sitzt die Strafe dafür immer noch ab. Ihr Bild war damals in allen Medien und verfolgt sie bis heute. Zudem kursiert seit kurzem in ihrer Firma ein Videoclip, in dem ihr Gesicht auf eine Videospiel-Figur montiert ist, die von einem Tentakel-Monster geschändet wird. Michèles wohlgeordnetes Leben gerät ins Wanken. Doch als Kämpferin nimmt sie die Suche nach dem Urheber des Videos sowie dem Vergewaltiger selbst in die Hand.
„Elle“ ist ein Film zwischen thriller und bürgerlichem Psychodrama. Die gelegentlichen komischen Elementen resultieren aus der emotionalen Kälte in Michéles Familie: Jedes noch so kurze Treffen endet im Streit, der sich an Kleinigkeiten hochschaukelt. Aber eigentlich geht es immer nur ums Geld; ihr Geld. Man giftet sich an, um sich wieder zu versöhnen und macht kein Drama draus, wenn die Oma beim Familienessen einen Schwächeanfall hat und bald darauf stirbt. Dennoch halten am Ende alle wieder zusammen.
Rache ist schmerzhaft
Das ist eher zweitrangig, illustriert aber gut, warum Michèle so kalkuliert und planmäßig an Dinge herangeht, die sie bedrohen. Es geht um Kontrolle, die sie schon einmal über ihr Leben verloren hat: als Kind nach den Morden ihres Vaters. Es geht aber auch um Rache an ihm und dem Vergewaltiger. Als sie ihn stellt, informiert sie nicht die Polizei, sondern beginnt einen riskanten Schlagabtausch zwischen Dominanz und Unterwerfung sowie Neugier und Rache.
Hintergrund
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Schöne Bilder, verstörende Szenen
Regisseur Verhoeven inszeniert das alles in schönen Bildern, die in krassem Gegensatz zum verstörenden Geschehen stehen. Die Geschichte basiert auf Philipp Dijans Roman „Oh…“ von 2012, dessen Titel den Film besser träfe – bietet der Ausruf doch eine Folie diverser emotionaler Zustände an: Überraschung, Enttäuschung, Schmerz oder Lust.
Das alles verkörpert Isabelle Huppert so wahrhaftig, dass es einen schaudert. Michèle ist eine ambivalente Figur, die schwer zu fassen ist und einen noch lange beschäftigt. Manchmal scheint bei ihr Verletzlichkeit auf; etwa ein plötzliches emotionales Geständnis, wenn sie lächelnd einer Krankenschwester von der Geburt ihres Sohnes erzählt. Das macht sie sympathisch, bedauern muss man sie aber nie. Denn schon bald wird sie die Herrschaft über ihr Leben wiedererlangen, mit der besten Freundin an der Seite – die ihr am Ende sogar das Verhälntnis mit ihrem Ehemann verzeiht. Das ist tröstlich und beruhigend, wie im echten Leben.