Dass Künstler sich für ihr Schaffen eigene Regeln auferlegen, ist nichts Ungewöhnliches. Der französische Schriftsteller Georges Perec hat einen ganzen Roman („La disparition“, 1969) ohne den Buchstaben „E“ geschrieben. Die dänischen Regisseure Lars von Trier und Thomas Vinterberg verboten sich mit ihrem „Dogma 95“-Manifest unter anderem den Einsatz von künstlichem Licht. Die Idee: Formzwang fördert die Inspiration – gerade Beschränkung bringt Freiheit hervor.
Info
Tiger Girl
Regie: Jakob Lass,
90 Min., Deutschland 2017;
mit: Ella Rumpf, Maria Dragus, Enno Trebs
Beitrag für Berlinale-Wettbewerb?
Sein neuer Film ist Lass’ Abschlussfilm an der Filmuniversität Babelsberg. „Tiger Girl“ hat im Berlinale-Programm „Perspektive Deutsches Kino“ so viel Aufmerksamkeit bekommen, dass viele fanden, er hätte auch im Wettbewerb laufen können. Das Augenmerk galt Tempo, Dialogen, zwei ungewöhnlich gewaltbereiten weiblichen Hauptfiguren – und abermals den selbstgemachten „FOGMA“-Regeln, die die spezielle Arbeitsweise des Regisseurs definieren.
Offizieller Filmtrailer
Skelett für semidokumentarischen Dreh
Die Anspielung auf das dänische „Dogma“-Manifest ist kein Zufall: „FOGMA ist Mut zum Risiko“, betont Lass. Zum Beispiel gibt es anstelle eines Drehbuchs nur ein „Skelett“; Szenen und alle Dialoge werden improvisiert. Und das team dreht „semidokumentarisch“ an realen Orten mit ihren normalen Abläufen.
In „Love Steaks“ war das ein wellness-Hotel; in „Tiger Girl“ ist es ein privater Sicherheitsdienst. Dort nimmt die schüchterne Vanilla (Maria Dragus) an einem Ausbildungs-Lehrgang teil. Damit will sie eigentlich nur Zeit überbrücken, bis sie erneut die Aufnahmeprüfung an der Polizeischule ablegen kann. Dann aber kommt alles ganz anders – denn Vanilla lernt Tiger (Ella Rumpf) kennen.
Höflichkeit als Gewalt gegen sich selbst
Beide junge Frauen begegnen sich zum ersten Mal auf einem Parkplatz. „Jetzt passt’s“, ruft Tiger, springt ins Bild hinein – und tritt mit der gleichen Bewegung den Außenspiegel des Autos ab, das Vanilla gerade einen Parkplatz weggenommen hat. „Du musst einfach sagen, was du willst, dann kriegst du’s auch“, wird sie später Vanilla einschärfen: „Du bist viel zu höflich. Höflichkeit ist auch eine Form von Gewalt: Gewalt gegen dich selbst!“ Diese Lektion hat die furchtlose Tiger für die angepasste Vanilla parat. Und Vanilla lernt schnell; beinahe zu schnell.
Zwar lernt sie tatsächlich, sich durchzusetzen, aber sie entwickelt auch Freude an Gewalt. Tiger hat vergessen, ihrer neuen Freundin auch das ethische Fundament ihrer Lebenshaltung beizubringen: Gewalt nur gegen diejenigen ausüben, die sie oder andere vorher schlecht behandelt haben. Aus Notwehr, nicht aus Sadismus. Doch Vanilla gerät außer Kontrolle: Sie war ihr Leben lang schwach, jetzt ist sie stark. Höflichkeit ist längst nicht mehr ihr Problem. Und Tiger erkennt ihren Schützling kaum noch wieder.
Nur wenige Laiendarsteller-Szenen
Sicherheit, Disziplin, Rebellion, Gewaltbereitschaft und Sexismus: Das sind lauter aktuelle Themen, von denen zu erzählen sich lohnt. Wer könnte das besser als jemand, der Freiheit als ästhetisches Programm propagiert?
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films „Love Steaks“ – rasant realistischer Film über Amour-Fou-Jugendliebe von Jakob Lass
und hier einen Bericht über den Film "Liebe Mich!" – charmantes Low-Budget-Beziehungsdrama unter Twentysomethings von Philipp Eichholtz.
und hier einen Beitrag über den Film "Ich fühl mich Disco" – originelle Coming-Out-Komödie von Axel Ranisch, Regie-Kollege von Jakob Lass.
Manches klingt wie aufgesagt
Ihre Dialogsätze, etwa der prägnante Spruch über Höflichkeit als Gewalt, sind zwar improvisiert, aber vieles entstand schon im Vorfeld. Das hört und merkt man. Es geht nicht darum, Lass Nichteinhaltung seiner eigenen Regeln vorzuwerfen. Aber im Vergleich zum Vorgängerfilm „Love Steaks“ ist diesmal spürbar, dass aus Spontaneität zumindest teilweise Berechnung wird; manche Sätze klingen wie aufgesagt.
An den Schauspielerinnen liegt das nicht: Ella Rumpf und Maria Dragus haben genug Energie und Ausstrahlung, um noch etliche Autospiegel abzutreten. Vielleicht liegt es eher an einem Regisseur, der an seine eigenen Regeln mittlerweile so fest glaubt, dass er durchaus Rebellion und Widerstand dagegen gebrauchen könnte. Dennoch ist „Tiger Girl“ mit Sicherheit einer der interessantesten deutschen Filme des Jahres. Gerade gegen die Sicherheit und Routine der Branche wollte der Regisseur aber doch angehen.