
Himmelssterne als Weihnachtsgeschenk und Butter mit Zucker als einzige Lebensmittel im Haus: So wachsen die vier Kinder der Familie Walls auf. Ihre Eltern vagabundieren mit ihnen von Ort zu Ort: Mama ist eine weltfremde Möchtegern-Künstlerin, Papa ein charismatischer Trunkenbold. Derart verlief die Kindheit der Journalistin Jeannette Walls; mit ihrer Autobiographie unter dem Titel „Schloss aus Glas“ landete sie einen bestseller. Ihn hat Regisseur Destin Daniel Cretton mit großem Staraufgebot verfilmt.
Info
Schloss aus Glas
Regie: Destin Daniel Cretton,
127 Min., USA 2016;
mit: Brie Larson, Naomi Watts, Woody Harrelson
Kidnapper-Vater im Krankenhaus
Wolfsgeheul beendet diese Wohltat: Vater Rex (Woody Harrelson) fällt im Hospital ein und entführt die Kleine lange vor ihrer Genesung, während draußen die Mutter mit der übrigen Familie im Wagen mit laufendem Motor wartet. Eine von vielen Fluchten der Walls-Familie, die meistens mitten in der Nacht stattfinden. Denn der Vater legt sich regelmäßig mit Autoritäten an oder verliert wegen Trinkerei seinen job.
Offizieller Filmtrailer
Papa versäuft Kinder-Ersparnisse
Trotz beständiger Unsicherheit und Armut ist Jeannette kein unglückliches Kind. Als großer Fabulierer versteht es Rex, aus allem ein Ereignis zu machen. Mit zunehmendem Alter aber begreift das Mädchen, welch prekäre Verhältnisse die Eltern in ihrem schrankenlosen Freiheitsdrang ihren Kindern zumuten. Sie sind unfähig, für eine Familie zu sorgen: Jeannette begreift, dass es nie das Schloss aus Glas geben wird, das ihr Vater seinen Sprösslingen zu bauen verspricht.
Diese Konstellation erinnert ein wenig an „Captain Fantastic“ (2016) von Matt Ross, in dem Viggo Mortensen radikales Aussteigertum in der Wildnis zelebriert. Im Gegensatz zu ihm, einem gebildeten und disziplinierten Linksradikalen, ist jedoch Vater Rex ein manischer Egozentriker mit tiefdunkler Seite; er versäuft sogar die schwer erarbeiten Ersparnisse seiner Kinder, um seine inneren Dämonen zu betäuben.
Verschachtelte Zeitebenen-Konstruktion
Einige Jahre später hat die mittlerweile erwachsene Jeannette (Brie Larson) als erfolgreiche Klatschkolumnistin in New York genug Abstand zwischen sich und ihre Eltern gebracht. Als diese ohne Vorwarnung wieder in ihr wohlgeordnetes Leben treten, muss sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, die sie verdrängt hatte: So arriviert sie inzwischen wirken mag – ihre wilde Kindheit hat sie geprägt.
Regisseur Cretton erzählt diese Geschichte als verschachtelte Konstruktion aus mehreren Zeitebenen, in der Jeannette und ihre Geschwister als Kinder, teenager und Erwachsene auftreten. Dabei geht er nicht chronologisch vor, sondern springt von einer Ebene zur nächsten, wie es persönlicher Erinnerung entspricht. Das erschwert zwar die Identifizierung mit der Hauptfigur, die von drei Darstellerinnen gespielt wird, macht aber den Prozess ihrer Ablösung vom sehr dominanten Vater umso deutlicher. Zudem wird dessen borderline-Persönlichkeit präzise porträtiert.
Kindheit in klaustrophobischer Enge
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Captain Fantastic" – gelungene Tragikomödie über Dropout-Familie von Matt Ross mit Viggo Mortensen
und hier eine Besprechung des Films "Das Gesetz der Familie" – Familiendrama über nomadische Prekariats-Outlaws von Adam Smith mit Michael Fassbender + Brendan Gleeson
und hier einen Beitrag über den Film "Jackie - wer braucht schon eine Mutter" – eindringliches Familiendrama-Roadmovie von Antoinette Beumer.
Die Handlung lebt statt dessen vor allem von starken Charakteren und ihrem Zusammenhalt; auch die Kinderrollen sind sehr gut besetzt. Dagegen bleibt die übrige Welt außen vor, was zugleich die klaustrophobische Enge zeigt, in der die Kinder aufwachsen. Dabei changiert der Tonfall zwischen Jeannettes berechtigter Wut über ihre verkorkste Kindheit und Ansätzen von Verständnis für ihre exzentrischen Eltern, die Harrelson und Watts sehr glaubhaft verkörpern.
Du kannst es schaffen!
Somit vermittelt der Film unterschwellig eine weitere Variante der altbekannten „Du kannst es schaffen!“-Botschaft – der sich die Eltern bewusst entzogen haben. Dieses ambivalente Verhältnis zur „Vom Tellerwäscher zum Millionär“-Ideologie der US-Gesellschaft ist Stärke und Schwäche des Films zugleich: Er zeichnet eine gelebte Biografie nach, aus der die Protagonistin erstaunlich robust hervorging. Dabei könnte er am Ende durchaus mehr Realismus und weniger gefühlsselige Vergebungsstimmung vertragen.