Die Kamera fliegt über dichte Wälder und landet in einer Lichtung. Zwischen Bäumen und Büschen schaut sie sich um: Vögel singen, Äste knacken, Baumkronen brechen das Sonnenlicht, und ein Hirsch schleicht sich vorsichtig heran. Wenn ein Film so beginnt, grüßt offensichtlich das Klischee der vermeintlichen Ruhe vor dem Sturm.
Info
Captain Fantastic – Einmal Wildnis und zurück
Regie: Matt Ross,
120 Min., USA 2016;
mit: Viggo Mortensen, Steve Zahn, Frank Langella
Besser in freier Wildbahn töten
Diese Eingangs-Szene trägt die Essenz des Films in sich: Es geht um Widersprüche zwischen Natur, Mensch und Zivilisation. Die schnelle Tötung von Wild in freier Natur ist nicht annähernd so grausam wie das Umbringen eines lebenslang in Ställe eingepferchten Tiers mit einem Bolzenschussgerät; ungefähr so würde jedenfalls Familien-Häuptling Ben Cash argumentieren.
Offizieller Filmtrailer
Lagerfeuer-Romantik mit Marx + Trotzki
Er zog mit seiner Frau Leslie (Trin Miller) in die weiten Wälder im Nordwesten der USA. Dort leben sie seit langem mit ihren sechs Kindern in einem großen Zelt, umgeben von selbstgebauten Möbeln, einem Baumhaus, einer Küche und gefüllten Bücherregalen. Die Familie beherrscht nicht nur das schusswaffenfreie Jagen, sondern ist auch sehr belesen: Die Akademiker-Eltern unterrichten ihre Kinder selbst.
Am Lagerfeuer diskutieren die Familie, auch die Jüngsten, über Trotzkis Theorien und Dostojewskis Romane; Marx‘ Schriften werden aus dem Stehgreif zitiert. Bei aller Freiheit eines Lebens zwischen Selbstversorgung und Zivilisationsferne ist der Alltag jedoch streng durchorganisiert. Morgens ruft Ben zum Frühsport, danach ist Unterricht; gefolgt von Nahkampftraining, politischen Diskussionen sowie Jagd- und Kletterausflügen.
Aus Robinsonade wird road movie
Die isolierte Idylle bröckelt, als eine andere Wirklichkeit hereinbricht. Leslie ließ sich wegen schwerer Depressionen in eine Klinik einweisen; Monate später erfährt Ben von ihrer Schwester Harper (Kathryn Hahn), dass sie Selbstmord begangen hat. Dafür macht ihr Vater Jack (Frank Langella) Ben verantwortlich: Er droht ihm, ihn verhaften zu lassen, falls dieser bei Leslies Begräbnis erscheinen sollte.
Als Ben seinen weinenden Kindern erzählt, sie dürften nicht zur Beerdigung ihrer Mutter, begehren sie auf. Er lässt sich umstimmen, alle fahren mit einem alten Schulbus los – und der Film verwandelt sich von einer survival-Robinsonade in ein road movie mit dem Arbeitstitel: sieben Neo-Anarchisten auf dem Weg zur Spießer-Beerdigung.
Cola ist giftiges Wasser
Der clash of civilisations ist vorhersehbar, aber mit solcher Empathie gefilmt, dass sich der Zuschauer selbst wie ein Aussteiger fühlt: Man beäugt die übrige Welt aus trostlosen Konsumtempeln und entfremdeten Bewohnern genauso skeptisch wie die Kinder, die derlei nur aus Büchern kennen. Da spricht der verschüchterte Bo mit einem Mädchen seines Alters über die SciFi-Fernsehserie „Star Trek“, die er nie gesehen hat – und redet sich um Kopf und Kragen. Oder Ben antwortet auf die Frage seiner Tochter Kielyr, was Cola sei, nur: „Giftiges Wasser“.
Tragikomisch wird es hingegen, wenn Leslies Schwester Harper Ben rät, seine Kinder auf die Schule zu schicken. Ben ruft seine achtjährige Tochter herbei, fragt sie nach den von der US-Verfassung verbrieften Grundrechten – und sie betet die Paragraphen im Wortlaut wie ein Roboter herunter.
Auf den Spuren von Emerson + Thoreau
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Den Menschen so fern" – packender existentialistischer Sahara-Western nach einer Erzählung von Albert Camus mit Viggo Mortensen
und hier einen Rezension des Films "Die Maisinsel" – idyllische Aussteiger-Robinsonade in Georgien von George Ovashvili
und hier einen Bericht über den Film "Night Moves" - Ökoterrorismus-Thriller unter US-Aussteigern in Oregon von Kelly Reichardt mit Jesse Eisenberg
und hier einen Beitrag über den Film „Das grüne Wunder – Unser Wald“ – beeindruckend gefilmte Doku über den deutschen Wald von Jan Haft.
Solche Widersprüche haben in den USA eine lange Tradition. Rousseaus Maxime „Zurück zur Natur!“ fiel in dieser Nation aus Einwanderern und Pionieren auf fruchtbaren Boden: Ralph Waldo Emerson formulierte Mitte des 19. Jahrhunderts eine Lehre vom Dasein im Einklang mit der Natur. Henry David Thoreau wohnte jahrelang allein in einer Blockhütte; sein Erfahrungsbericht „Walden. Oder das Leben in den Wäldern“ von 1854 wurde zur Bibel aller US-Aussteiger.
Utopie vs. Wirklichkeit
Auch Regisseur Matt Ross kennt diese Lebensweise aus eigener Erfahrung: Als Kind wohnte er mit seiner Mutter in Späthippie-Kommunen an der Pazifikküste. Mit „Captain Fantastic“ gelingt ihm eine zeitgemäße Meditation über alternative Lebensentwürfe und Erziehung in einer durchkapitalisierten Welt, aber auch über den Konflikt zwischen Utopie und Wirklichkeit.
Dazu tragen auch beeindruckende Naturaufnahmen und genial spielende Kinderdarsteller bei. Leider verliert der Film zum Schluss den Mut, den Widersprüchen standzuhalten; er begnügt sich – wie in der Realpolitik – mit einem Kompromiss.