Nuri Bilge Ceylan

The Wild Pear Tree

Sinan Aydin (Aydin Doğu Demirkol, re.) spricht mit seiner Jugendliebe Hatice (Hazar Ergüclü). Foto: © trigon-film.org
(Kinostart: 18.6.) Allegorie der Jungakademiker-Arroganz: Ein Nachwuchsautor in der Provinz publiziert sein erstes Buch – das keiner liest. Der türkische Regisseur Nuri Bilge Ceylan, sonst ein Meister subtiler Charakter-Analysen, walzt diesmal seinen Stoff zu breit aus.

Bloß weg von hier: Das scheint das Leitmotiv jedes zweiten türkischen Autorenfilms zu sein. Zumindest bei jenen, die in Anatolien angesiedelt sind: Der provinziellen Ödnis wollen ihre Figuren immer in die Großstadt entfliehen – nach Istanbul, Ankara oder Izmir. Versteht sich, dass sie dort nie ankommen; oder allenfalls um den Preis drastischer Desillusionierung.

 

Info

 

The Wild Pear Tree

 

Regie: Nuri Bilge Ceylan,

189 Min., Türkei 2018;

mit: Aydin Doğu Demirkol, Murat Cemcir, Bennu Yildirimlar

 

Weitere Informationen

 

Auch Sinan Karasu (Aydin Doğu Demirkol) will seinen Geburtsort Çan so bald wie möglich verlassen. Er hat in der nahen Küstenstadt Çanakkale sein Lehramts-Studium abgeschlossen und kehrt nun in die elterliche Wohnung zurück. Unschlüssig, was er als nächstes tun soll: Den 18-monatigen Wehrdienst ableisten oder sich für eine der begehrten Lehrerstellen an der Küste bewerben? Wenn er Pech hat, könnte er als Lehrer in einem ostanatolischen Bergdorf landen. Am liebsten möchte er aber sein erstes Buch veröffentlichen, das er vage als „Autofiktions-Meta-Roman“ beschreibt; Sinan sieht sich als künftigen Schriftsteller.

 

Süchtig nach Pferdewetten

 

Doch sein Umfeld macht es ihm nicht leicht. Vater İdris (Murat Cemcir), ein kauziger Grundschullehrer mit Hang zu schrägen Scherzen, ist leider der Spielsucht verfallen. Mit tausend Tricks erbettelt und erschwindelt er sich Geld, um auf Pferderennen zu wetten; er schreckt nicht einmal davor zurück, seine Familienmitglieder zu bestehlen. Darüber klagt Mutter Asuman (Bennu Yildirimlar) zwar lauthals, tut aber nichts – sie fügt sich sogar duldsam, wenn wegen unbezahlter Rechnungen der Strom abgestellt wird. Für Sinans literarischen Ehrgeiz haben beide zwar warme Worte, aber ansonsten wenig übrig.

Offizieller Filmtrailer


 

Misanthrop ohne Lebenserfahrung

 

Andernorts beißt er auf Granit, sobald er versucht, eine Finanzspritze für sein Debüt aufzutreiben. In der Stadtverwaltung wird er ebenso abgewiesen wie von einem Kleinunternehmer, der sich zuweilen als Mäzen gefällt. Eine Unterhaltung mit einem etablierten Autor, den er um Unterstützung bittet, gleitet in einen verbalen Schlagabtausch ab. Schließlich greift er zu unlauteren Mitteln, um die Druckkosten zu bezahlen – und macht die ernüchternde Erfahrung, dass sein Erstlingswerk wie Blei in den Regalen seiner Lieblingsbuchhandlung liegt. Sogar in seiner Familie liest es nur sein Vater, dem es gefällt.

 

Hoffnungsvolle Talente mit Drang zu Höherem, die an ihrer vermeintlich engstirnigen Umgebung verzweifeln, treten in der Literatur wie im Kino häufig auf – vermutlich, weil ihre Schöpfer darin ihre eigene Jugend nachzeichnen. Allerdings werden solche Charaktere selten so unsympathisch gezeichnet wie hier. Missmutig und höhnisch stiefelt Sinan durch den Film; quasi als Allegorie der Jungakademiker-Arroganz. Jeden, den er trifft, verwickelt er in langatmige Gespräche über persönliche oder letzte Fragen. Dabei entpuppt sich die mürrische Misanthropie, die er zur Schau stellt, als wohlfeiler Zynismus eines enttäuschten Romantikers mit himmelhohen moralischen Ansprüchen, aber geringer Lebenserfahrung.

 

Mäandernde Redundanz

 

Regisseur Nuri Bilge Ceylan ist geradezu spezialisiert auf Porträts von Provinzlern mit gescheiterten Ambitionen; an ihren Beispielen entfaltet er ganze Gesellschaftspanoramen der Widersprüche in der heutigen Türkei. In seinen letzten beiden Meisterwerken „Once upon a time in Anatolia“ (2011) und „Winterschlaf“ (2014) gelang ihm das mit epischer Wucht. Diesmal wollte er sich offenbar selbst übertreffen – und scheitert wie sein juveniler Held: Vieles in diesem dreistündigen Film wird zu breit ausgewalzt.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Winterschlaf" - brillantes Intelektuellen-Drama in der Türkei von Nuri Bilge Ceylan

 

und hier einen Bericht über den Film "Once upon a time in Anatolia" – perfektes Roadmovie als Total-Panorama der Türkei von Nuri Bilge Ceylan

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Es war einmal in..."Fotografien von Nuri Bilge Ceylan im Kunsthaus im KunstKulturQuartier, Nürnberg

 

Was weniger für die gewohnt langen Szenen und Einstellungen gilt: Abermals sind die Landschaftsaufnahmen betörend schön, und die Bildgestaltung ist exquisit – selbst bei dürren Feldern und im Inneren düsterer Hütten. Doch etliche Dialoge ufern in mäandernde Wechselreden über Gott und die Welt aus; was in Romanen von Dostojewski fesseln kann, aber nicht auf der Leinwand. Mit ihrer Redundanz mögen sie dem Alltagsleben abgelauscht sein, doch den allmählichen Sinneswandel der Hauptfigur machen sie kaum plausibel. Die éducation sentimentale, die sie erfährt, bleibt bleibt trotz aller wortreichen Auseinandersetzungen weitgehend Behauptung.

 

Sichfügen ins Bestehende

 

Das verwundert bei diesem Regisseur, der – ähnlich wie sein iranischer Kollege Asghar Farhadi – bislang stets mit präziser Mikro-Beobachtung menschlichen Verhaltens glänzte. Vielleicht liegt es an den Umständen, unter denen Nuri Bilge Ceylan arbeiten muss: Im 17. Jahr der Herrschaft von Recep Tayyip Erdoğan sind die innertürkischen Verhältnisse möglicherweise so verhärtet, dass sie subtile Analysen kaum noch erlauben – sondern nur resignatives Sichfügen ins Bestehende wie beim zurecht gestutzten Jungautor Sinan.