Bloß weg von hier: Das scheint das Leitmotiv jedes zweiten türkischen Autorenfilms zu sein. Zumindest bei jenen, die in Anatolien angesiedelt sind: Der provinziellen Ödnis wollen ihre Figuren immer in die Großstadt entfliehen – nach Istanbul, Ankara oder Izmir. Versteht sich, dass sie dort nie ankommen; oder allenfalls um den Preis drastischer Desillusionierung.
Info
The Wild Pear Tree
Regie: Nuri Bilge Ceylan,
189 Min., Türkei 2018;
mit: Aydin Doğu Demirkol, Murat Cemcir, Bennu Yildirimlar
Süchtig nach Pferdewetten
Doch sein Umfeld macht es ihm nicht leicht. Vater İdris (Murat Cemcir), ein kauziger Grundschullehrer mit Hang zu schrägen Scherzen, ist leider der Spielsucht verfallen. Mit tausend Tricks erbettelt und erschwindelt er sich Geld, um auf Pferderennen zu wetten; er schreckt nicht einmal davor zurück, seine Familienmitglieder zu bestehlen. Darüber klagt Mutter Asuman (Bennu Yildirimlar) zwar lauthals, tut aber nichts – sie fügt sich sogar duldsam, wenn wegen unbezahlter Rechnungen der Strom abgestellt wird. Für Sinans literarischen Ehrgeiz haben beide zwar warme Worte, aber ansonsten wenig übrig.
Offizieller Filmtrailer
Misanthrop ohne Lebenserfahrung
Andernorts beißt er auf Granit, sobald er versucht, eine Finanzspritze für sein Debüt aufzutreiben. In der Stadtverwaltung wird er ebenso abgewiesen wie von einem Kleinunternehmer, der sich zuweilen als Mäzen gefällt. Eine Unterhaltung mit einem etablierten Autor, den er um Unterstützung bittet, gleitet in einen verbalen Schlagabtausch ab. Schließlich greift er zu unlauteren Mitteln, um die Druckkosten zu bezahlen – und macht die ernüchternde Erfahrung, dass sein Erstlingswerk wie Blei in den Regalen seiner Lieblingsbuchhandlung liegt. Sogar in seiner Familie liest es nur sein Vater, dem es gefällt.
Hoffnungsvolle Talente mit Drang zu Höherem, die an ihrer vermeintlich engstirnigen Umgebung verzweifeln, treten in der Literatur wie im Kino häufig auf – vermutlich, weil ihre Schöpfer darin ihre eigene Jugend nachzeichnen. Allerdings werden solche Charaktere selten so unsympathisch gezeichnet wie hier. Missmutig und höhnisch stiefelt Sinan durch den Film; quasi als Allegorie der Jungakademiker-Arroganz. Jeden, den er trifft, verwickelt er in langatmige Gespräche über persönliche oder letzte Fragen. Dabei entpuppt sich die mürrische Misanthropie, die er zur Schau stellt, als wohlfeiler Zynismus eines enttäuschten Romantikers mit himmelhohen moralischen Ansprüchen, aber geringer Lebenserfahrung.
Mäandernde Redundanz
Regisseur Nuri Bilge Ceylan ist geradezu spezialisiert auf Porträts von Provinzlern mit gescheiterten Ambitionen; an ihren Beispielen entfaltet er ganze Gesellschaftspanoramen der Widersprüche in der heutigen Türkei. In seinen letzten beiden Meisterwerken „Once upon a time in Anatolia“ (2011) und „Winterschlaf“ (2014) gelang ihm das mit epischer Wucht. Diesmal wollte er sich offenbar selbst übertreffen – und scheitert wie sein juveniler Held: Vieles in diesem dreistündigen Film wird zu breit ausgewalzt.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Winterschlaf" - brillantes Intelektuellen-Drama in der Türkei von Nuri Bilge Ceylan
und hier einen Bericht über den Film "Once upon a time in Anatolia" – perfektes Roadmovie als Total-Panorama der Türkei von Nuri Bilge Ceylan
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Es war einmal in..."– Fotografien von Nuri Bilge Ceylan im Kunsthaus im KunstKulturQuartier, Nürnberg
Sichfügen ins Bestehende
Das verwundert bei diesem Regisseur, der – ähnlich wie sein iranischer Kollege Asghar Farhadi – bislang stets mit präziser Mikro-Beobachtung menschlichen Verhaltens glänzte. Vielleicht liegt es an den Umständen, unter denen Nuri Bilge Ceylan arbeiten muss: Im 17. Jahr der Herrschaft von Recep Tayyip Erdoğan sind die innertürkischen Verhältnisse möglicherweise so verhärtet, dass sie subtile Analysen kaum noch erlauben – sondern nur resignatives Sichfügen ins Bestehende wie beim zurecht gestutzten Jungautor Sinan.