Gero von Boehm

Helmut Newton – The Bad and the Beautiful

Arena, New York Times, © Foto: Helmut Newton, Helmut Newton Estate / Courtesy Helmut Newton Foundation. Fotoquelle: Filmwelt Verleihagentur GmbH
(Kinostart: 9.7.) Venus im Rollstuhl mit Beinprothese: Solche provokanten Inszenierungen machten den Modefotografen Helmut Newton in den 1970/80ern berühmt. Ihn porträtiert Regisseur Gero von Bohm vor allem mithilfe von artigem Kollegen-Lob; Archivbilder haben mehr zu sagen.

Dass Künstler in ihren aktiven Zeit heftige Kontroversen auslösen, ist keine Seltenheit. In der Rückschau können sich dann oft mehr Menschen auf die einst umstrittene Kunst einigen, als in der Epoche, in der diese Ideen neu waren. Bei den Fotografien von Helmut Newton, der seit den 1970er Jahren vor allem mit provokanten Inszenierungen nackter Frauen für Furore sorgte – auch wenn sein Œuvre weit darüber hinaus reicht –, liegt allerdings die Frage nahe: Wie würde seine Karriere heute verlaufen?

 

Info

 

Helmut Newton –

The Bad and the Beautiful

 

Regie: Gero von Boehm,

90 Min., Deutschland 2020;

mit: Helmut Newton, Isabella Rossellini, Hanna Schygulla, Claudia Schiffer

 

Website zum Film

 

Würden Modemagazine überhaupt noch solche Fotostrecken in Auftrag geben, die ihn berühmt machten: in denen er Frauen als Lustobjekte inszenierte, nicht selten gefesselt oder mit verbundenen Augen? Als er das Model Nadja Auermann im Rollstuhl und mit Beinprothese posieren ließ, war das 1994 schwer umstritten; heute würde diese Inszenierung vermutlich einen Karriereknick auslösen.

 

Professioneller Voyeur

 

Zwar haben Frauen auf Newtons Bildern oft Rollen inne, bei denen sie am längeren Hebel zu sitzen scheinen; die Inszenierungen des „professionellen Voyeurs“, wie er sich gerne nannte, bewegen sich in einem Spannungsfeld von Lust und Gefahr. Bei aller psychologisch durchaus spannenden Ambivalenz sind die Bilder aber doch letztlich Männerphantasien – auch wenn die Mechanismen solcher Phantasie häufig zugleich schonungslos mit offengelegt werden.

Offizieller Filmtrailer


 

Vorhersehbare Plaudereien

 

Dem Regisseur Gero von Boehm, der als Dokumentarfilmer etliche Künstler und Prominente fürs Fernsehen porträtiert hat, dürfte wohl klar gewesen sein, dass er in einem Film über Newton kaum daran vorbei kommt, solche Inszenierungen von Sex und Macht infrage zu stellen. In der ersten halben Filmstunde des Films plaudern Models, Popstars und Schauspielerinnen, die mit Newton gearbeitet haben, dennoch recht vorhersehbar aus dem Nähkästchen. Leider erzählen Claudia Schiffer, Charlotte Rampling, Grace Jones etc. mehr oder minder das Gleiche.

 

Sie betonen beflissen, was für ein brillanter Geist er gewesen sei. Wie freigeistig in seiner Ideenfindung! Welche Energien er bei seinen Modellen freisetzte! Die Sängerin Marianne Faithfull attestiert Newton gar, er habe sie von Prüderie und Komplexen befreit. Diese geballten positiven Erinnerungen lassen den ersten Filmteil sehr gleichförmig wirken. Später darf die 2004 gestorbene Essayistin und Schriftstellerin Susan Sontag in einer TV-Talkshow noch ein wenig über Newton meckern.

 

Wie Riefenstahl Männer fotografierte

 

Spannender wird das Porträt in der zweiten Hälfte, wenn Newton, der ebenfalls 2004 bei einem Autounfall starb, öfter selbst zu Wort kommt. Und Regisseur Gero von Boehm versucht, seinen künstlerischen Ansatz vor dem Hintergrund seiner bewegten Biografie zu verstehen. So formuliert etwa die Schauspielerin Isabella Rossellini: „Er fotografierte Frauen, wie Leni Riefenstahl Männer fotografierte.“ Wie Eindrücke in seiner Jugend seine Ästhetik beeinflussten, wird ebenfalls beleuchtet – etwa im Vergleich seiner Fotografien mit dem Körperkult der Nazis.

 

1920 als Helmut Neustädter in Berlin in eine jüdische Fabrikantenfamilie geboren, erlebt Newton als Jugendlicher die NS-Machtübernahme, die seinen Bewegungsspielraum bald immer mehr einschränkt. Als 16-Jähriger geht er bei der berühmten Mode- und Aktfotografin Else Neuländer-Simon alias Yva in die Lehre. Sie musste wegen des Berufsverbot für Juden 1938 ihr Atelier aufgeben; 1942 wurde sie im Vernichtungslager Sobibor ermordet.

 

Gefeuert wegen Unfähigkeit

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Saul Leiter, David Lynch, Helmut Newton: Nudes" - mit Bildern von Helmut Newton in der Helmut Newton Stiftung, Museum für Fotografie, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Peter Gowland’s Girls" – erste Retrospektive des Pin-up-Fotografie-Pioniers in den Reiss-Engelhorn-Museen, Mannheim

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Alice Springs" – weltweit erste Retrospektive mit Star- + Glamour-Fotografie der Frau von Helmut Newton im Museum für Fotografie, Berlin

 

Wenige Tage nach der Reichsprogromnacht am 9./10. November 1938 verlässt Familie Neustädter das Deutsche Reich. Der 18-jährige Helmut schlägt sich nach Singapur durch – wo er seinen ersten Job als Bildreporter wegen „Unfähigkeit“ schnell wieder verliert. Er landet in Australien und heiratet 1948 die Schauspielerin June Browne; unter dem Pseudonym Alice Springs arbeitete sie ebenfalls erfolgreich als Fotografin.

 

Bis zu Newtons Durchbruch sollten allerdings noch mehr als zwei Jahrzehnte vergehen. Größere Erfolge feiert er erst in den 1970er und 1980er Jahren, etwa mit Aufsehen erregenden Fotostrecken in den Hochglanz-Magazinen der Modewelt. Oder der Serie „Big Nudes“ (1979/81): Fünf dieser überlebensgroßen Frauen-Akte hängen im Foyer des Berliner „Museum für Fotografie“, das zur Hälfte Newtons Werk gewidmet ist.

 

Newton über Newton

 

Dass dieses zu Beginn eher brave Künstlerporträt im zweiten Teil mehr Erkenntnisgewinn und größeren Unterhaltungswert bietet, liegt vor allem am umfangreichen Archivmaterial. Newton unmittelbar zu erleben, offenbart seine interessante, facettenreiche Persönlichkeit; das ermöglicht wiederum einen neuen Blick auf seine Kunst. Was dem übrigen Film nur bedingt gelingt.