Dass Künstler in ihren aktiven Zeit heftige Kontroversen auslösen, ist keine Seltenheit. In der Rückschau können sich dann oft mehr Menschen auf die einst umstrittene Kunst einigen, als in der Epoche, in der diese Ideen neu waren. Bei den Fotografien von Helmut Newton, der seit den 1970er Jahren vor allem mit provokanten Inszenierungen nackter Frauen für Furore sorgte – auch wenn sein Œuvre weit darüber hinaus reicht –, liegt allerdings die Frage nahe: Wie würde seine Karriere heute verlaufen?
Info
Helmut Newton –
The Bad and the Beautiful
Regie: Gero von Boehm,
90 Min., Deutschland 2020;
mit: Helmut Newton, Isabella Rossellini, Hanna Schygulla, Claudia Schiffer
Professioneller Voyeur
Zwar haben Frauen auf Newtons Bildern oft Rollen inne, bei denen sie am längeren Hebel zu sitzen scheinen; die Inszenierungen des „professionellen Voyeurs“, wie er sich gerne nannte, bewegen sich in einem Spannungsfeld von Lust und Gefahr. Bei aller psychologisch durchaus spannenden Ambivalenz sind die Bilder aber doch letztlich Männerphantasien – auch wenn die Mechanismen solcher Phantasie häufig zugleich schonungslos mit offengelegt werden.
Offizieller Filmtrailer
Vorhersehbare Plaudereien
Dem Regisseur Gero von Boehm, der als Dokumentarfilmer etliche Künstler und Prominente fürs Fernsehen porträtiert hat, dürfte wohl klar gewesen sein, dass er in einem Film über Newton kaum daran vorbei kommt, solche Inszenierungen von Sex und Macht infrage zu stellen. In der ersten halben Filmstunde des Films plaudern Models, Popstars und Schauspielerinnen, die mit Newton gearbeitet haben, dennoch recht vorhersehbar aus dem Nähkästchen. Leider erzählen Claudia Schiffer, Charlotte Rampling, Grace Jones etc. mehr oder minder das Gleiche.
Sie betonen beflissen, was für ein brillanter Geist er gewesen sei. Wie freigeistig in seiner Ideenfindung! Welche Energien er bei seinen Modellen freisetzte! Die Sängerin Marianne Faithfull attestiert Newton gar, er habe sie von Prüderie und Komplexen befreit. Diese geballten positiven Erinnerungen lassen den ersten Filmteil sehr gleichförmig wirken. Später darf die 2004 gestorbene Essayistin und Schriftstellerin Susan Sontag in einer TV-Talkshow noch ein wenig über Newton meckern.
Wie Riefenstahl Männer fotografierte
Spannender wird das Porträt in der zweiten Hälfte, wenn Newton, der ebenfalls 2004 bei einem Autounfall starb, öfter selbst zu Wort kommt. Und Regisseur Gero von Boehm versucht, seinen künstlerischen Ansatz vor dem Hintergrund seiner bewegten Biografie zu verstehen. So formuliert etwa die Schauspielerin Isabella Rossellini: „Er fotografierte Frauen, wie Leni Riefenstahl Männer fotografierte.“ Wie Eindrücke in seiner Jugend seine Ästhetik beeinflussten, wird ebenfalls beleuchtet – etwa im Vergleich seiner Fotografien mit dem Körperkult der Nazis.
1920 als Helmut Neustädter in Berlin in eine jüdische Fabrikantenfamilie geboren, erlebt Newton als Jugendlicher die NS-Machtübernahme, die seinen Bewegungsspielraum bald immer mehr einschränkt. Als 16-Jähriger geht er bei der berühmten Mode- und Aktfotografin Else Neuländer-Simon alias Yva in die Lehre. Sie musste wegen des Berufsverbot für Juden 1938 ihr Atelier aufgeben; 1942 wurde sie im Vernichtungslager Sobibor ermordet.
Gefeuert wegen Unfähigkeit
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Saul Leiter, David Lynch, Helmut Newton: Nudes" - mit Bildern von Helmut Newton in der Helmut Newton Stiftung, Museum für Fotografie, Berlin
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Peter Gowland’s Girls" – erste Retrospektive des Pin-up-Fotografie-Pioniers in den Reiss-Engelhorn-Museen, Mannheim
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Alice Springs" – weltweit erste Retrospektive mit Star- + Glamour-Fotografie der Frau von Helmut Newton im Museum für Fotografie, Berlin
Bis zu Newtons Durchbruch sollten allerdings noch mehr als zwei Jahrzehnte vergehen. Größere Erfolge feiert er erst in den 1970er und 1980er Jahren, etwa mit Aufsehen erregenden Fotostrecken in den Hochglanz-Magazinen der Modewelt. Oder der Serie „Big Nudes“ (1979/81): Fünf dieser überlebensgroßen Frauen-Akte hängen im Foyer des Berliner „Museum für Fotografie“, das zur Hälfte Newtons Werk gewidmet ist.
Newton über Newton
Dass dieses zu Beginn eher brave Künstlerporträt im zweiten Teil mehr Erkenntnisgewinn und größeren Unterhaltungswert bietet, liegt vor allem am umfangreichen Archivmaterial. Newton unmittelbar zu erleben, offenbart seine interessante, facettenreiche Persönlichkeit; das ermöglicht wiederum einen neuen Blick auf seine Kunst. Was dem übrigen Film nur bedingt gelingt.