Die Welt von Yana (Ia Sukhitashvili) erscheint in Dea Kulumbegashvilis Spielfilmdebüt auf den ersten Blick wie aus der Zeit gefallen: Berge umschließen das abgelegene georgische Dorf. Gelegentlich sind Kinderlachen oder Hundbellen zu hören, aber keine Musik. Hier führt Yana mit Mann David (Rati Oneli) und ihrem Sohn Giorgi (Saba Gogichaishvili) ein ärmliches, wenig freudvolles Leben.
Info
Beginning
Regie: Dea Kulumbegashvili,
130 Min., Georgien/ Frankreich 2020;
mit: Ia Sukhitashvili, Kakha Kintsurashvili, Rati Oneli
Flammenmeer im Gebetshaus
Gleich zu Beginn des Films wird das Leben von Yanas Familie erschüttert: Das Gebetshaus der „Zeugen Jehovas“ wird von religiösen Fanatikern niedergebrannt. Die Gemeinde ist entsetzt von solch brutaler Feindseligkeit; auch Yana und David fragen sich, ob und wie sie in dieser Umgebung weiter leben können.
Offizieller Filmtrailer OmU
In der Machogesellschaft
David erstattet Anzeige bei der Polizei; doch die fordert ihn auf, seine Anzeige zurückzuziehen, und leitet keine Ermittlungen ein, obwohl David Videoaufnahmen als Beweismaterial vorlegen kann. Während David eine Dienstreise macht, um dem Ältestenrat der Zeugen Jehovas zu berichten, taucht bei Yana ein mysteriöser und vielleicht falscher Polizist auf. Immer wieder verhört er sie und demütigt sie als Frau und Angehörige einer religiösen Minderheit, bis er sie schließlich vergewaltigt.
Yana weiß, dass sie von der archaischen Machogesellschaft ihres Dorfes kaum Mitgefühl erwarten kann; auch David ringt mit sich und seinen Moralvorstellungen, als er erfährt, was ihr widerfahren ist. Damit löst er bei Yana eine Kette von Reaktionen aus, die so unvorhersehbar und zugleich stimmig sind, dass es einem fast den Atem raubt.
Yana allein im Wald
Man ist ganz bei ihr, vor allem in den wenigen Augenblicken, in denen sie allein ist und eigentlich nur atmet, etwa am Küchentisch. Oder: In einer langen, fast siebenminütigen Sequenz belauscht die Kamera einen Gang von Yana durch den Wald – während sie nur atmet, nur Licht und Schatten auf ihrem Gesicht spielen und die Geräuschkulisse langsam dem leisen Rauschen ihres Blutes weicht. In solchen Momenten scheint das Gefühl des Stillstands und des Nichtdazugehörens für sie erträglich zu werden. Ansonsten wirkt sie verloren in dieser männlich dominierten Welt, von der sie sich schließlich radikal abwenden wird.
Hintergrund
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Die Kunst des Tableauhaften
Regisseurin Kulumbegashvili hat jedoch kein feministisches Manifest in Sinn, sondern eher eine künstlerisch überhöhte Zustandsbeschreibung. Die Kamera verfolgt das Geschehen über weite Strecken aus der Perspektive des auktorialen Erzählers. Sie verharrt während der Szenen – bis auf wenige und daher umso effektvollere Schwenks – immer an gleicher Stelle, was den Bildern etwas Tableauhaftes und auch irritierend Künstliches gibt. Allein wegen der Kameraarbeit von Arseni Khachaturan möchte man den Film auf großer Leinwand betrachten.
Dieser in seiner kargen Schlichtheit mutige Film ist ein kleines Wunder, denn er bietet Kino im besten, altmodischen Sinne. Er fordert das Publikum heraus, indem er keine Antworten und Interpretationen liefert, sondern auf die eigene Urteilskraft jeder oder jedes Einzelnen baut. Das gibt diesem kargen Werk eine Wucht, die sich selbst auf dem kleinsten Bildschirm entfaltet.