
Der Gedanke an die erste Jugendliebe, die uns einen Sommer versüßte, vermag uns in nostalgische Verzückung zu versetzen. Ein Hauch dieser Nostalgie durchweht auch Francois Ozons neuen Film „Sommer 85“ – doch so unschuldig und verträumt, wie der Titel vermuten lässt, ist die Geschichte nicht: Gleich zu Beginn wird Hauptfigur Alexis (Félix Lefebvre) in Handschellen einem Richter vorgeführt – er wurde verhaftet, weil er auf dem Grab seines Freundes getanzt hat.
Info
Sommer 85
Regie: François Ozon,
100 Min., Frankreich 2020;
mit: Félix Lefebvre, Benjamin Voisin, Philippine Velge
Weitere Informationen zum Film
Lebenshunger und Verhängnis
Sein selbstsicheres und – sein Klappkamm ist sein liebstes Accesoire – ein wenig selbstverliebtes Auftreten macht David zum Gegenpart des introvertierten Jünglings Alexis. Der denkt sich mit Begeisterung Todesszenarien aus und träumt davon, Schriftsteller zu werden. David liebt alles Schöne – weshalb er den hübschen Alexis unverhohlen anflirtet und ihn ohne große Gegenwehr verführt. Im Gegensatz zu Alexis hat David Erfahrung mit dem Tod: Nachdem ihr Mann gestorben war, zog seine Mutter sich ins Häusliche zurück; sie überlässt die Geschäfte ihrem Sohn. Vielleicht ist dies ein Grund für seinen unersättlichen Lebenshunger und seine Freude an der Geschwindigkeit – die ihm am Ende zum Verhängnis wird.
Offizieller Filmtrailer
Die 80er auf 16 mm
Aus dem Off erzählt Alexis seine Geschichte, die im Film in Rückblenden zu sehen ist. Und er schreibt seine Geschichte auf – als Protokoll der Ereignisse für seine Bewährungshelferin, aber auch als Selbstvergewisserung, als eine Art Chronologie seiner eigenen Erwachsenwerdung. Am Ende dieser Geschichte steht sein verbotener Tanz auf dem Grab seines Freundes.
„Sommer 85“ ist kein verklärter Blick auf die Zeit der eigenen Jugend; durch die Kraft seiner stimmigen Geschichte wirkt er zeitlos. Dieser Eindruck wird noch verstärkt vom leicht grobkörnigem 16 mm-Material, auf dem der Film gedreht wurde. Die Musik spielt eine ebenso wichtige Rolle: The Cure, 80er Disco und das damals schon zehn Jahre alte „Sailing“ von Rod Stewart – das dem Freigeist David, als Metapher für ungezwungenes Leben, aus der Seele spricht.
Ein wenig „Grease“, ein wenig „La Boum“
Alex ist einfach rettungslos verliebt. Davids Energie und Selbstgewißheit faszinieren ihn. Er idealisiert die Beziehung noch im Rückblick, der als leicht kitschige Hollywood-Teenagerfilm-Montage inszeniert ist: mit langen Mopedfahrten in die untergehende Sonne und dem obligatorischen Rummelplatzbesuch mit Schlägerei. Da schwingt ein wenig „Grease“ mit – und explizit der 80er-Teenie-Klassiker „La Boum – Die Fete“, als David Alex in der Disco einen Walkman aufsetzt, der „Sailing“ spielt, während alle anderen wild tanzen.
Hintergrund
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und hier eine Besprechung des Films "Call me by your Name" - stilsicheres Coming-Out-Drama 1983 von Luca Guadagnino.
Verzweifelter Tanz auf dem Grab
Der Film wird oft mit Luca Guadagninos „Call me by your Name“ (2017) verglichen, der ein ähnliches Sujet hat: Die Adaption eines Romans über eine schwule erste Sommerliebe – mit schönen Menschen vor schönen Kulissen. Anders als Guadagnino erzählt Ozon in „Sommer 85“ die Liebesgeschichte zweier junger Männer ähnlichen Alters. Dass die beiden schwul sind, ist Nebensache und wird nicht eingehender thematisiert.
Das entspricht auch dem Tenor der Romanvorlage: „Tanz auf meinem Grab“ des britischen Autors Aidan Chambers. Ozon wollte diesen Stoff bereits vor 35 Jahren verfilmen; er sollte sein erster Spielfilm werden. Aber damals wäre er sicher nicht so leicht geworden und doch melancholisch – eben so, wie man auf die Unbeschwertheit und manche Torheit der Jugend zurückblickt.
Das Drama nach Davids Tod entsteht aus den unterschiedlichen Familiengeschichten der beiden: David ist Jude, und Alex´ Tanz auf seinem Grab ist nicht nur die Einlösung eines Versprechens – sondern eine antisemitische Straftat. Dieser wunderschön verzweifelte Tanz aber bringt ihn auch zu sich selbst und an den Anfang eines neuen Lebens, denn: „Das Einzige, was zählt, ist seiner Geschichte zu entkommen“. Besser kann ein letzter Satz kaum sein.