
Die Schweiz Mitte der 1990er Jahre: Für die elfjährige Mia (Luna Mwezi) gleicht das Leben mit ihrer heroinsüchtigen Mutter Sandrine (Sarah Spale) dem Tanz auf einem Vulkan, der jederzeit ausbrechen kann. Was er auch regelmäßig tut, wie zum Auftakt eine drastische Eskalation macht: Fluchend und prügelnd treibt sich Sandrine auf dem Platzspitz herum, damals Zentrum der Züricher Drogenszene. Es wird kurz darauf von den Behörden aufgelöst.
Info
Platzspitzbaby
Regie: Pierre Monnard,
100 Min., Schweiz 2020;
mit: Jerry Hoffmann, Sarah Spale, Luna Mwezi
Weitere Informationen zum Film
Machtlose Sozialarbeiter + Vater
Sandrine hält den Alltagstrott nicht lange ohne Drogen aus. Als dann noch alte Freunde aus der Szene auftauchen, wird sie zu Mias Leidwesen wieder rückfällig. Die mit der Betreuung der Abhängigen beauftragten Sozialarbeiter sind heillos überfordert. Und Mias von der Familie getrennt lebender Vater Andre (Jerry Hoffmann) ist ebenfalls machtlos, so lange Mia mit aller Kraft an ihrer Mutter festhält.
Offizieller Filmtrailer
Imaginärer 1950er-Jahre-Freund
„Platzspitzbaby“ basiert auf den Erinnerungen von Michelle Halbheer, die in der Züricher Drogenszene aufwuchs und später das gleichnamige Buch darüber schrieb. Der Film zeigt sehr differenziert eine schwierige Mutter-Tochter-Beziehung, geprägt vom stetigen Wechsel zwischen Liebe und Zurückweisung. Sandrine liebt ihre Tochter aufrichtig; gemeinsam stellen sie sich gern vor, sie seien ein Piratinnen-Duo gegen den Rest der Welt. Doch auf jede Liebesbekundung folgt ein emotionaler Missbrauch.
Die Mutter übernimmt keine Verantwortung für ihre Tochter. Stattdessen sind die Rollen vertauscht: Das Kind bietet Sandrine den letzten Halt. Die ständige Spannung gleicht Mias imaginärer Freund Buddy (Delio Malär) zumindest zeitweise aus. Mit seiner Schmalztolle, knallgelbem Hemd und dunkelblauem Samtjacket wirkt er den 1950er Jahren entsprungen. Gemeinsam singen die beiden den Ohrwurm „Sloop John B“ (1966) von den Beach Boys, wann immer die Welt Mia zu erdrücken droht; ohnehin bildet Musik den Figuren einen wirksamen Fluchtpunkt.
Hang zu Überdeutlichkeit
Als Mia Anschluss an eine Clique rebellischer Teenager findet und in der Musical-AG der Schule Anerkennung erhält, schwindet Buddys Präsenz allmählich. Trotz dieser positiven Impulse eskaliert das Leben mit ihrer Mutter immer mehr; sie muss letztlich eine sehr schmerzhafte Entscheidung treffen.
Hintergrund
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Grenzen gegen Mama durchzusetzen
Dagegen gelingt es der herausragend spielenden Debütantin Luna Mwezi, die Handlung zusammen zu halten. Besonders die Szenen zwischen Mutter und Tochter sind von eindringlicher Intensität. Für ihr Verhältnis ist der Drogenmissbrauch gar nicht der entscheidende Aspekt. Mia geht es vor allem darum, Grenzen durchzusetzen – gerade auch gegenüber Sandrine. Denn selbst die stärkste Mutterliebe kann nicht die Wunden heilen, die sie vorher in rücksichtsloser Grenzübertretung geschlagen hat.