
Es beginnt mit einem Knall: In den frühen Morgenstunden wird die in Kolumbien lebende Jessica (Tilda Swinton) von einem eigentümlichen Geräusch aus dem Schlaf geschreckt. Es klingt wie eine Explosion, aber auf merkwürdige Weise gefiltert; ein Auslöser ist nicht zu ermitteln.
Info
Memoria
Regie: Apichatpong Weerasethakul,
136 Min., Kolumbien/ Thailand/ Deutschland 2021;
mit: Tilda Swinton, Elkin Díaz, Juan Pablo Urrego
Weitere Informationen zum Film
Verschwundener Toningenieur
Doch dadurch wird das Rätsel noch verzwickter: Als Jessica später Hernán noch einmal aufsuchen will, kann sich niemand im Tonstudio an ihn erinnern – ein Kollege dieses Namens arbeite hier nicht, heißt es. Jessica scheint sich immer weiter aus der Realität ihrer Mitmenschen zu entfernen.
Offizieller Filmtrailer
Das Gedächtnis von Steinen anzapfen
Ihre Suche führt sie heraus aus ihrem städtischen, von Wissenschaft und Technologie beherrschten Umfeld zu einer archäologischen Ausgrabungsstätte in der Provinz: Beim Bau eines Tunnels wurden 6000 Jahre alte Skelette entdeckt. In einem Dorf in der Nähe begegnet Jessica einem älteren Einsiedler (Elkin Díaz), der Fische entschuppt und sich ebenfalls Hernán Bedoya nennt.
Er erzählt ihr, dass er sich nicht nur an buchstäblich alles erinnere, was er jemals erlebt habe. Er könne selbst das Gedächtnis von Steinen anzapfen und ihre Geschichte aus ihnen herauslesen, sagt er. Mit dieser Begegnung endet Jessicas Suche – auch das Rätsel des unheimlichen Knalls wird gelüftet.
Realitätsebenen durchdringen einander
Dabei geht es nicht einfach nur um die medizinische Diagnose „Exploding Head Syndrome“: Die Betroffenen erleben im Halbschlaf oder beim Aufwachen akustische Halluzinationen. Auch Regisseur Apichatpong Weerasethakul litt zeitweise daran, doch verwandelt er das Phänomen in seine eigene, poetische Version. Sie wirft etliche Fragen auf, die noch lange nach dem Ende des Films nachhallen. Voraussetzung dafür ist, sich ihm anzuvertrauen, seine scheinbaren Längen auszuhalten und die eigentümliche Stimmung zu erfahren, wenn mehrere Realitätsebenen einander subtil durchdringen.
Der Begriff „magischer Realismus“ wird gern herbeizitiert, wenn in der südamerikanischen Literatur nicht alles mit rechten Dingen zugeht, also die erzählte Wirklichkeit nahtlos in Träume und Halluzinationen übergeht. Geprägt wurde diese Stilbezeichnung in Abgrenzung zum europäischen Surrealismus; als ihr berühmtester Vertreter gilt der Kolumbianer Gabriel García Márquez (1927-2014).
Persönlicher magischer Realismus
Da dieser Film in Kolumbien spielt, liegt es nahe, ihn dieser Traditionslinie zuzuordnen. Allerdings kommt Regisseur Apichatpong Weerasethakul aus Thailand; dort entstanden auch die Filme „Tropical Malady“ (2004) und „Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben“ (2010), mit denen er bekannt wurde. Regelmäßig verlassen seine Arbeiten den Boden der Realität mittels Filmbildern, die teils banal erscheinen, im nächsten Moment aber transzendent wie Meisterwerke der Malerei wirken können.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Cemetery of Splendour" - poetisch-surreales Militärhospital-Drama aus Thailand von Apichatpong Weerasethakul
und hier ein Interview mit Apichatpong Weerasethakul über "Cemetery of Splendour"
und hier eine Besprechung des Films "Suspiria" – originelle Neuinterpretation des Giallo-Horrorklassikers von Dario Argento durch Luca Guadagnino mit Tilda Swinton
und hier eine Besprechung des Films "Only Lovers Left Alive" – feinsinnige Vampirfilm-Parodie von Jim Jarmusch mit Tilda Swinton.
Wie Erwachen aus einem Traum
Dieser Film zählt zu jenen, in dem die Tonspur die Führung übernimmt; manchmal verrät sie mehr als die Bilder. Dabei gibt sich „Memoria“ anfangs fast naturalistisch wie ein zeitgenössischer Dokumentarfilm, etwa in der Szene im Tonstudio, oder wenn Jessica und Hernán einen Hersteller von Kühltruhen für Schnittblumen aufsuchen.
Die Magie dagegen äußert sich zunächst nur in jenem mysteriösen Geräusch, verdichtet sich aber allmählich, bis sie die Handlung schließlich ganz beherrscht. Dadurch ähnelt das Ende dem Erwachen aus einem Traum: In ihm finden disparate Elemente aus Wissenschaft und Mythologie mit Weerasethakuls eigenen Ideen über Mensch, Natur und Gedächtnis für einen Moment zu einer – hinterher unerklärlichen – Harmonie.
Ab 5.8.2022 bei MUBI