
Die Taiko-Trommel ist das wuchtige Kronjuwel der japanischen Musik, das schlagende Herz einer vielfältigen Tradition mit feudalen Wurzeln: Das fassförmige, beidseitig bespannte und bespielte Instrument ist so groß, dass beide Trommler bequem selbst darin Platz hätten. Diese spezielle Trommelkunst exportiert das rund 40-köpfige „Taiko Performing Arts Ensemble Kodō“ seit vier Jahrzehnten in alle Welt.
Info
Shiver – Die Kunst der Taiko-Trommel
Regie: Toyoda Toshiaki,
89 Min., Japan 2020;
mit: Koshiro Hino, Taiko Performing Arts Ensemble Kodo: Yoshie Abe, Kenta Nakagome, Shogo Koma
Weitere Informationen zum Film
Inseldorf zum Proben + Produzieren
Wie alle anderen international auftretenden Truppen musste auch Kodō 2020 seine Tour wegen der Pandemie unterbrechen. Wie viele andere Truppen wichen auch „Die Kinder der Trommel“ – so die eine Bedeutung von „Kodō“, die andere ist „Herzschlag“ – auf ein Filmprojekt aus. Als Kulisse diente die mitteljapanische Insel Sado, auf der die Gruppe zum Proben und Produzieren ein ganzes Dorf errichtet hat.
Offizieller Filmtrailer OmU
Für die große Leinwand gemachter Film
Im geräumigen Studio und der umliegenden Berg- und Küstenlandschaft entstand ein Musikfilm, dessen Landschaftsaufnahmen sich glücklicherweise eher am Samurai- als am Traveller-Kino orientieren; er kommt überdies ganz ohne Dialog aus. Als einzige Requisiten werden rituelle Masken eingesetzt, die Spielszenen beschränken sich auf eine fließende Verknüpfung der Musiktitel.
Manchmal verharrt die Kamera minutelang bei der Meeresbrandung oder einem Bergrücken, oder sie steigt schlicht die Treppen zum schreinartigen Studio empor. Im Grunde handelt es sich um eine geschickte Aneinanderreihung mehrerer on location gefilmter Performances, die möglicherweise ebenso gut als Serie von Youtube-Videos hätte erscheinen können. Dass stattdessen das Format eines Kinofilms gewählt wurde, ist ästhetisch sehr zu begrüßen: Ein großes Bild und ein gutes Sound-System sind unerlässlich, um sich auf die stimmungsvolle Landschaft und die rein perkussive Musik einzulassen.
Komplexe + unterschiedliche Kompositionen
Diese beschränkt sich übrigens nicht auf die Taiko-Trommel, die dramaturgisch eher behandelt wird wie der Endgegner im Hollywood-Monsterkino. Wie Steven Spielbergs „Weißer Hai“ wird sie zu Beginn vorgestellt, um dann zunächst Platz zu machen für Kontext und dramatis personae: „Kodō“ ist mittlerweile eine Art Trommel-Akademie. In ihr stellt die Taiko nur die Königsdisziplin dar; doch alles Große wird auch im Kleinen gewissenhaft durchexerziert.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension über die Ausstellung "Ryoji Ikeda: data-verse 1 + 2" - beeindruckende Digitalkunst-Projektion des japanischen Künstlers im Kunstmuseum Wolfsburg
und hier eine Besprechung des Films "Breathing Earth – Susumu Shingus Traum" - Doku-Porträt des japanischen Land-Art-Künstlers von Thomas Riedelsheimer
und hier einen Beitrag über den Film "Tony Conrad - Completely in the Present" - Doku-Porträt des US-Avantgarde-Komponisten + Miterfinders der Drone-Music von Tyler Hubby
und hier einen Bericht über den Film "Imagine waking up tomorrow and all music has disappeared" - hinreißendes Porträt des Musik-Querdenkers Bill Drummond von Stephan Schwietert.
Einflüsse aus Polyrhythmik + Minimal Music
Das nächste Stück ist eine Studie in ungeraden Zählzeiten, die den Ausführenden mathematische Präzision abverlangt. Komponist Koshiro Hino schöpft dabei nicht allein aus der japanischen Tradition: Auch US-Minimalisten wie Steve Reich und afrikanische Polyrhythmen haben in seiner Musik ihre Spuren hinterlassen.
Die von keinem Plot gestörte Synthese aus Klang, Naturaufnahmen, Architektur und Licht erzeugt ihr eigenes cinematografisches Feld und sorgt immer wieder für wohlige Schauer, die dem Film seinen Titel gaben. Daraus erhebt sich gegen Ende majestätisch die Taiko-Trommel.
Sechsarmige Superhelden
Wenn die beiden Spieler dann mit unglaublicher Kraft und Ausdauer auf diese Trommel eindreschen, lässt die Bildauflösung die martialischen Musiker als sechsarmige Superhelden erscheinen. Dass diese mediale Seelenmassage eineinhalb Stunden dauert, mag nach dem finalen Tutti überraschen; dem Zuschauer und –hörer kommt es nur halb so lange vor.