German Kral

Adiós Buenos Aires

Das Tango-Orchester auf der Bühne, v.l.n.r.: Carlos Acosta (Carlos Portaluppi), Ricardo Tortorella (Mario Alarcón), Tito Godoy (Rafael Spregelburd), Julio Färber (Diego Cremonesi), David (Gustavo Angeloni). Foto: © Alpenrepublik, 2023
(Kinostart: 11.5.) Wo man singt, da lass dich ruhig nieder: Ein Tango-Musiker kann 2001 nicht auswandern, weil die Wirtschaft kollabiert. Stattdessen erlebt er kleine Erfolge mit seiner Band – und einer Unfallgegnerin. Regisseur German Kral inszeniert ein schönes Feelgood-Movie für Resignierte.

Im Jahr 2001 ächzt Argentinien unter einer beispiellosen Wirtschaftskrise. Auf ihrem Höhepunkt erlebt das Land fünf verschiedene Präsidenten in 13 Tagen; Kontoinhaber verlieren ihr gesamtes Erspartes, und ein großer Teil der Mittelklasse rutscht unter die Armutsgrenze. Ein Generalstreik im Dezember wird von Massendemonstrationen begleitet. Ihre Niederschlagung durch die Ordnungskräfte kostet 28 Menschen das Leben.

 

Info

 

Adiós Buenos Aires

 

Regie: German Kral,

93 Min., Deutschland/ Argentinien 2023;

mit: Diego Cremonesi, Marina Bellati, Manuel Vicente

 

Weitere Informationen zum Film

 

Vor diesem Hintergrund spielt die Geschichte von Julio Färber (Diego Cremonesi) und seiner erweiterten Familie. Der Argentinier mit deutschen Wurzeln lebt mit seiner Tochter und Mutter in einer kleinen Wohnung. Das Schuhgeschäft, das er von seinem Vater geerbt hat, muss er aufgeben. Und eigentlich hat er genug von der Hauptstadt Buenos Aires – in Berlin werde es ihm besser gehen, denkt er.

 

Argentiniens ganzer Stolz + letzter Trost

 

Reisepässe und Visa für Mutter, Tochter und sich selbst hat der Auswanderungswillige bereits besorgt. Nun muss er seine Pläne noch seiner anderen Familie eröffnen: Abends spielt er Bandoneon in einer erfolglosen Tango-Band. Die leidet darunter, dass auch ihr Sänger angesichts der deprimierenden Lage das Weite gesucht hat. Daher traut sich Julio nicht, der Kapelle mit seinen Reiseplänen den Todesstoß zu versetzen: Der Tango, das wird bald deutlich, ist Argentiniens ganzer Stolz – das klingende Rückgrat des Landes und für viele der letzte Trost in einer finsteren Gegenwart.

Offizieller Filmtrailer


 

Langsam erlöschendes Neonlicht

 

Deswegen setzt Regisseur German Kral immer, wenn der Tango erklingt, ein goldenes Licht von der Seite, so dass die Interpreten einen Moment lang strahlen wie in einem Werbespot. Krals Erfahrungen als Regisseur mehrerer Musik-Dokumentarfilme fließen elegant in die Bildästhetik mit ein. Sind die Melodien jedoch verklungen, erwartet die Orchester-Mitglieder eine ernüchternde Realität, die jeder auf seine Weise zu meistern versucht.

 

Einer gibt sich kämpferisch, ein anderer flüchtet sich in Träume vom Lottogewinn, und der Wirt ihrer Stammkneipe in die Philosophie. Derweil leuchten am Neonschild über seiner Kneipentür nur noch wenige Buchstaben, öfter schlägt es knisternd Funken; das malade Leuchtmittel steht zweifellos symbolisch für den tristen Zustand des Landes.

 

Zufallsbegegnungen mit Bruchpilotin

 

Ihm den Rücken zu kehren, ist für Julio gar nicht so einfach. Seine frisch verliebte Teenager-Tochter hat überhaupt keine Lust auf Deutschland. Als ihr Vater seinen alten Peugeot verkaufen will, um Geld für die Flugtickets aufzutreiben, fährt ihm zudem die vorlaute Taxifahrerin Mariela (Marina Bellati) in den Wagen. Ein Totalschaden, der seine Pläne um Wochen zurückwirft. Kein Wunder, dass er von der ebenfalls alleinerziehenden Mariela erstmal schwer genervt ist. Aber zufälligerweise laufen sich die beiden immer wieder über den Weg – was Julio unmerklich an die Stadt bindet, die er eigentlich verlassen will.

 

Schritt für Schritt führt Regisseur Kral mit lakonisch-launigem Humor in diesen bedrohten Mikrokosmos aus Freundschaften und Familienbande hinein. Dabei wachsen einem die Hauptfiguren schnell ans Herz. Die anfangs kratzbürstige Mariela merkt allmählich, dass sie sich in Julios Nähe wohlfühlt – zumal der einen guten Draht zu ihrem gehörlosen Sohn hat. Marina Bellati spielt jede Stufe ihrer emotionalen Entwicklung bewundernswert nuanciert.

 

Faustischer Pakt mit reichen Tango-Freunden

 

In der Hauptrolle verkörpert Diego Cremonesi, der aussieht wie ein argentinischer Daniel Craig, ebenso überzeugend eine Kreuzung aus Verlässlichkeit und Verletzlichkeit. Eine gute Stunde lacht und leidet man mit dem hochsympathischen Ensemble mit, ohne dass klar wird, wo der Film eigentlich hin will. Nach Berlin jedenfalls nicht – dahin kann Julio keinesfalls fliegen. Eine Notverordnung begrenzt den Geldbetrag, den man pro Woche vom Konto abheben darf, auf lächerliche 250 Pesos. Dagegen gehen die Argentinier auf die Straße; sie machen ihrem Unmut mit cacerolazos Luft, dem lautstarken Schlagen auf Töpfe und Pfannen.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Las Insoladas - Sonnenstiche" – argentinische Komödie über Auswanderungsträume von Gustavo Taretto

 

und hier eine Besprechung des Films "Medianeras" – subtile Tragikomödie über Singles auf Partnersuche in Buenos Aires von Gustavo Taretto

 

und hier einen Beitrag über den Film "Argentina" – faszinierende Tanz- + Musik-Dokumentation von Carlos Saura

 

und hier einen Bericht über den Film "Wild Tales – Jeder dreht mal durch!" – schwarzhumoriger Episodenfilm aus Argentinien von Damián Szifrón.

 

Doch die Tango-Band hofft immer noch auf einen Karriereschub. Sie hat mittlerweile die Gesangslegende Ricardo Tortorella (Mario Alarcón) reaktiviert; mit ihm kann sie kleine Erfolge verzeichnen. Die verdanken sie vor allem Julios Cousin, der offenbar zu den wenigen Argentiniern gehört, deren Lebensstil von der Krise nicht beeinträchtigt ist. Für dessen reichen Freunde Tango zu spielen, während vor der Tür lautstarke Proteste toben – diesen faustischen Pakt schließen Julio und seine Kollegen.

 

Angst vor sozialem Absturz

 

Bilder von Massendemonstrationen mit Frauen, die auf Töpfe trommeln, von Straßenkämpfen und den raschen Personalwechseln an der Staatsspitze haben es 2001 bis in die deutschen Nachrichten geschafft. Argentiniens Wirtschaft hat sich seither nur teilweise erholt – die Inflationsrate und die Armutsquote sind weiterhin hoch. Wie traumatisch die mittel- und langfristigen Auswirkungen der Krise von 2001/2 waren, wird in dieser Tragikomödie noch einmal deutlich.

 

Damit berührt der Film auch Erfahrungen und Befürchtungen in Europa: Regisseur German Kral spricht sozusagen von Mittelklasse zu Mittelklasse über die Angst vor sozialem Absturz. Zwar gönnt er den meisten Protagonisten ein hoffnungsvolles Ende – doch der Preis, den sie dafür zahlen, ist beträchtlich.

 

Am Ende siegt die Solidarität innerhalb der Wahl- und Patchwork-Familie. Auf der Strecke bleiben der politische Wandel und der kollektive Kampf gegen eine kleptokratische Elite. So wird diese – mit sorgenvollem Blick gefilmte – Liebeserklärung an Buenos Aires zum Feelgood-Movie für Resignierte.