Das Kind im Frauenkörper: Die junge Londonerin Bella (Emma Stone), unglücklich verheiratet und schwanger, hat sich Ende des 19. Jahrhunderts in die Themse gestürzt. Der ertrunkenen Selbstmörderin pflanzt der mad professor Godwin Baxter (kaum unter einer grotesken Narbenmaske zu erkennen: Willem Dafoe) das Gehirn ihres ungeborenen Kindes ein, womit er sie wiederbelebt.
Info
Poor Things
Regie: Giorgos Lanthimos,
141 Min., USA 2023;
mit: Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe
Weitere Informationen zum Film
In Kleinkindsprache brabbeln
Zum Personal des Haushalts zählt neben der resoluten Haushälterin noch Baxters Assistent, der brave und vorurteilslose Max McCandless (Ramy Youssef). Der junge Mann ist fasziniert von Bellas eigenwilliger Schönheit und ihrem kindlich unbefangenen Blick auf die Welt. Emma Stone verkörpert dieses Geschöpf ohne Hemmungen: Anfangs stakst sie auf ihren Beinen unbeholfen daher und brabbelt Kleinkindsprache.
Offizieller Filmtrailer
In der Film-Trickkiste herumwühlen
Je mehr sie gleichsam heranwächst, umso geschmeidiger werden ihre Bewegungen und umso geschliffener wird ihr Ausdruck. Für diese Metamorphose wurde Stone kürzlich mit dem Golden Globe prämiert. Verdientermaßen allein schon deshalb, weil sie lauter exaltierte Kostüme samt überdimensionierten Pompom-Ärmeln mit großer Würde (er)trägt. Zuvor hatte der Film beim Festival von Venedig bereits den Goldenen Löwen erhalten.
In „Poor Things“ verfilmt der griechische Regisseur Giorgos Lanthimos den gleichnamigen Roman von 1992 des schottischen Schriftstellers Alasdair Gray (1934-2019). Dabei greift Lanthimos tief in die Trickkiste filmischer Spielereien und wühlt mit beiden Händen darin herum. Diverse visuelle Effekte – von CGI-Landschaften über absurde Architekturen bis zu krassen Falschfarben – werden möglichst oft eingesetzt. Oder die Kamera filmt mit Fischaugen-Objektiv, was zu extremer Bild-Krümmung führt.
Horror-Hommage + Zeitgeist-Tribut
Anfangs ist der Film vorwiegend in Schwarzweiß gehalten, um später mit Bellas Aufbruch in die weite Welt bonbonbunt zu werden. Teilweise erinnern die grellen Farbeffekte an Werke der Technicolor-Ära. Ohnehin ist „Poor things“ über weite Strecken eine Hommage an frühe Gothic- und Horrorfilme; etwa die erste Adaption von Mary Shelleys „Frankenstein“-Roman 1931 mit Boris Karloff in der Hauptrolle.
Aber auch klassische Abenteuerfilme wie „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“ (1959) nach Jules Verne dienten als Vorbilder für „Poor Things“. Zugleich ist Lanthimos um Anschluss an den heutigen Zeitgeist bemüht, denn sein Film dreht sich vor allem um die Entwicklung und Selbst-Emanzipation der weiblichen Hauptfigur.
Sex bei jeder (un-)passenden Gelegenheit
Da Doktor Baxter sie von der Welt abschottet, wird sein Haus Emma bald zu klein. Neben ihrer Neugier erwacht ihre Sexualität mit Macht – weil Bella ohne die Prüderie ihrer Epoche aufgewachsen ist, geht sie damit entsprechend unbefangen um. Bei jeder (un-)passenden Gelegenheit beginnt sie, ihre Sinnlichkeit auszuleben. Das lockt den zwielichtigen Anwalt und Lebemann Duncan Wedderburn (herrlich schleimig: Mark Ruffalo) an. Er nimmt Bella mit auf eine luxuriöse Reise durch Europa – erste Station ist Lissabon.
Von nun an hat Bella viel Sex mit wechselnden Partnern beiderlei Geschlechts, dessen explizite Inszenierung etwas comicartig übertrieben wirkt. Zwischendurch entdeckt sie noch kurz in Alexandria das Elend der Welt, was sie vergeblich zu lindern versucht – durch eine großzügige Spende, die in falsche Hände gerät.
Erwachsenen-Bildung im Nobel-Bordell
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Favourite – Intrigen und Irrsinn" – brillantes Kammerspiel am englischen Hof von Giorgos Lanthimos
und hier eine Besprechung des Films "The Lobster" – grotesk surreale Beziehungs-Dystopie von Giorgos Lanthimos mit Rachel Weisz
und hier einen Bericht über den Film "The Killing of a Sacred Deer" – absurder Familien-Psychothriller von Giorgos Lanthimos mit Colin Farrell
und hier einen Beitrag über den Film "Mary Shelley" – gelungenes Biopic über die Schriftstellerin + Erfinderin von "Frankenstein" von Haifaa Al Mansour
und hier eine Kritik des Films "Ema" – bizarr-sinnliches Drama weiblicher Selbstbefreiung durch Sex von Pablo Larraín.
Neben der schillernden Bella, deren Launen und Sinnesfreuden Emma Stone geradezu wolllüstig ausspielt, bleiben alle Männerfiguren eindimensional: vom gütigen Monstervater über einen Reigen mehr oder weniger perverser Fieslinge bis zum verständnisvollen und toleranten Gatten. Warum sich Bella nach all ihren Abenteuern und Ausschweifungen ausgerechnet in die Arme des biederen Max McCandless flüchtet, erschließt sich allerdings nicht.
Normalos sind die wahren Monster
Zwar hat die außergewöhnliche Optik des Filmes durchaus ihren Charme, doch der nutzt sich in mehr als zwei Stunden Laufzeit irgendwann ab. Inhaltlich fehlt zudem die verstörende Schärfe und Rätselhaftigkeit, mit denen frühere Arbeiten von Regisseur Lanthimos produktiv irritierten.
Allen voran „The Lobster“ von 2015: In diesem Film werden Singles in Tiere verwandelt, wenn sie sich nicht rechtzeitig verpartnern. Verglichen damit wirkt „Poor Things“ trotz opulenter Ausstattung eher eindimensional; mit der simplen Botschaft, dass angepasste Normalos die wahren Monster sind.