Felipe Gálvez

Colonos

Der Söldner Bill (Benjamin Westfall) wird von Lieutenant Alexander MacLennan (Mark Stanley) bedroht. Foto: © Quijote Films
(Kinostart: 15.2.) Mehr als ein Spätwestern von der Südhalbkugel: Zum Schutz der Herden von Schafzüchtern in Feuerland massakrierten ihre Söldner um 1900 dort lebende Indigene. Diesen Völkermord inszeniert Regisseur Felipe Galvéz eine Stunde lang in betörend malerischen Bildern – dann kippt der Film.

Ein Déjà vu mit den Dalton-Brüdern: Bärbeißige Gesellen in dreckigen Gamaschen und schweren Stiefeln spucken maulfaul grobe Beleidigungen aus und fuchteln mit ihren Knarren herum. Abends am Lagerfeuer kauen sie auf halbrohem Fleisch herum und starren stumm in die Flammen. Tagsüber reiten sie auf genügsamen Pferden durch endlose Weiten. Also das sattsam bekannte Stammpersonal eines illusionslosen Neo-Westerns.

 

Info

 

Colonos

 

Regie: Felipe Gálvez,

97 Min., Chile/ Argentinien 2023;

mit: Camilo Arancibia, Mark Stanley, Benjamin Westfall

 

Weitere Informationen zum Film

 

Doch das menschenleere Grasland, das sie durchqueren, und die schneebedeckten Gipfel am Horizont befinden sich nicht in Montana oder Oregon, sondern gut 10.000 Kilometer weiter südlich: in Feuerland an der Südspitze Lateinamerikas. Und die hier erzählte Geschichte spielt nicht Mitte des 19. Jahrhunderts, als der Wilde Westen mit List und Gewalt erobert wurde, sondern ein Anfang des 20. Jahrhunderts. Überdies hält sie sich weitgehend an historisch verbürgte Tatsachen.

 

Im Reich des Königs von Patagonien

 

Ab 1878 hatte der spanische Auswanderer José Menéndez im Süden von Argentinien und Chile in nur zwei Jahrzehnten ein riesiges Unternehmens-Imperium aufgebaut: mit 220.000 Hektar Weideflächen für die Schafzucht, Gold- und Kupferbergwerken, einer Reederei und vielem mehr. Als der „König von Patagonien“ seinen Landbesitz auf Feuerland ausdehnte, kamen ihm dort die indigenen Selk’nam, auch Ona genannt, in die Quere. Dieses Jäger-und-Sammler-Volk betrachtete Schafe als Allgemeingut, das sie jederzeit jagen könnten. Daher ließ Menéndez, wie andere Großgrundbesitzer auch, die Selk’nam beseitigen.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Geheimauftrag: Indigenen-Mord

 

Berühmt-berüchtigt für seine Brutalität wurde sein Vorarbeiter Alexander McLennan (Mark Stanley). Ihn schickt Menéndez (Alfredo Castro) zu Beginn des Films mit zwei Gehilfen los; vorgeblich, um die Grenzen seines Territoriums für den Bau einer Straße abzustecken – de facto, um Indigene zu massakrieren. Dem US-Söldner Bill (Benjamin Westfall) ist das von Anfang klar; er wurde angeheuert, weil er Erfahrung mit der Hatz auf nordamerikanische Indianer hat. Der Mestize Segundo (Camilo Arancibia) versteht hingegen erst nach einer Weile, warum er als treffsicherer Schütze für dieses Kommando ausgewählt wurde.

 

Dessen Treiben inszeniert Regisseur Felipe Gálvez in seinem Spielfilmdebüt eine Stunde lang mit klassischer Western-Dramaturgie. Die abgebrühte Rohheit von McLennan – der „Lieutenant“ war in der britischen Armee nur einfacher Gefreiter, wie sich herausstellt – wird von Episode zu Episode krasser. Ebenso die Gewissenskonflikte von Segundo: Er ist als „Halbblut“ den Ureinwohnern so weit verbunden, dass er schamanistische Visionen von ihnen hat – aber im Ernstfall unternimmt er nichts, um sie vor der Abschlachtung zu bewahren. Jede Ausrottungs-Kampagne von Kolonialherren braucht einheimische Helfershelfer, die Sprachen und Lebensgewohnheiten der Opfer kennen.

 

Wiedersehen mit Colonel Kurtz

 

Ihre mörderische Mission kleidet Kameramann Simone D’Arcangelo in betörend schöne Bilder. Mithilfe alter Objektive und Filter verleiht er ihnen einen sanften Weichzeichner-Look mit satt leuchtenden Farben; das lässt die majestätische Erhabenheit der unberührten Natur von Feuerland prächtig zur Geltung kommen. Selbst das Böse sieht traumhaft gut aus: Wenn sich die Killer auf der Pirsch langsam aus Nebelschwaden herausschälen, scheinen sie mythischen Gestalten zu ähneln.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Sisters Brothers" – komplexer Neo-Western über ein Auftragskiller-Brüderpaar von Jacques Audiard

 

und hier eine Besprechung des Films "Der Perlmuttknopf" – exzellenter Essay-Film über die Verfolgung von Oppositionellen + Indigenen in Patagonien von Patricio Guzmán, mit Silbernem Bären 2015 prämiert

 

und hier einen Beitrag über den Film "White on White (Blanco en Blanco)" – sorgsam komponiertes Porträt eines Fotografen, der die Ausrottung von Feuerland-Indigenen dokumentiert, von Théo Court

 

und hier einen Bericht über den Film "Rey" – surrealer Historienfilm über einen Möchtegern-König in Patagonien 1860 von Niles Attallah

 

und hier eine Würdigung des Filmklassikers "Apocalypse Now – Final Cut (WA)" von Francis Ford Coppola als bester Kriegsfilm aller Zeiten.

 

Nach einer Stunde verlässt Regisseur Gálvez die ausgetretenen Pfade herkömmlicher Western: indem er das Trio auf einen Colonel Martin samt Gefolge treffen lässt. Dessen charismatische, ausgesucht grausame Herrschaft im Nirgendwo erinnert an die von Marlon Brando als Colonel Kurtz in „Apocalypse Now“ (1979) von Francis Ford Coppola. Hier wird sie zum Anlass für einen Zeitsprung.

 

Blutige Wolle verkauft sich nicht

 

Sieben Jahre später reist kurz vor der 100-Jahr-Feier von Chiles Unabhängigkeit – das wäre 1910 – ein Emissär der Regierung in Santiago de Chile namens Vicuña nach Puntas Arenas, der südlichsten Großstadt der Welt. In Menéndez‘ feudalem Wohnsitz macht er dem Magnaten klar, dass die Zeit der straflosen Menschenjagd vorbei sei, schon aus ökonomischem Interesse: „Mit Blut befleckte Schafwolle verkauft sich nicht“.

 

Um den Patriarchen unter Druck zu setzen, sammelt Vicuña Zeugnisse für seine Verbrechen. Dazu sucht er Segundo auf, der mittlerweile mit seiner indigenen Frau als Fischer an einer einsamen Bucht lebt. Der Mestize schildert, wie er ein vermeintliches Festmahl mit organisierte, bei dem Hunderte von Selk’nam vergiftet oder erschossen wurden. Dann posiert er bereitwillig als Teetrinker vor einer Filmkamera – doch seine Frau verweigert sich, indem sie reglos bleibt.

 

Zu nah, zu marginalisiert

 

Diese Volte macht aus „Colonos“, auf Deutsch „Siedler“, mehr als einen prägnanten und malerisch illustrierten Spätwestern von der Südhalbkugel. Die Untaten der Revolverhelden sind kein abgeschlossenes Kapitel aus der Vorgeschichte der heutigen Nation, das sich als historisches Grusel-Spektakel genießen ließe. Dafür sind die Folgen zu präsent – und die Nachfahren der damaligen Opfer bis heute marginalisiert.