„Guten Morgen, Ivano“ sind die ersten Worte, die Delia (Paolo Cortellesi) beim Aufstehen an ihren Mann (Valerio Mastandrea) richtet. Dafür versetzt er ihr mit dem Handrücken eine Ohrfeige, die sie fast aus dem Bett wirft. Aus purer Gewohnheit, wie schnell klar wird. Oder, wie Delia selbst immer wieder entschuldigend sagt, weil er nach zwei durchlittenen Weltkriegen eben etwas angespannt ist. Wie die gesamte italienische Gesellschaft.
Info
Morgen ist auch noch ein Tag
Regie: Paola Cortellesi,
118 Min., Italien 2023;
mit: Paola Cortellesi, Valerio Mastandrea, Romana Maggiora Vergano
Keine schwerverdauliche Tragödie
Regisseurin und Hauptdarstellerin Paola Cortellesi, die auch am Drehbuch mitschrieb, siedelt „Morgen ist auch noch ein Tag“ in Rom 1946 an – passenderweise im neorealistisch anmutenden Schwarzweiß. Doch ihr Debütfilm über häusliche Gewalt und Frauenunterdrückung gerät nicht zur schwerverdaulichen Tragödie; ansonsten wäre er kaum zum erfolgreichsten Kinofilm 2023 in Italien geworden.
Offizieller Filmtrailer
Altmodisches Format für enge Verhältnisse
Vielmehr schließt ihre Fabel vom Aus- und Aufbruch einer Frau an das Genre der Commedia all’italiana an, einer italienischen Spezialität der späten 1950 und frühen 1960er Jahre. Filme wie „Scheidung auf Italienisch“ (1962) mit Marcello Mastroianni oder „Signore e Signori“ (1965) von Pietro Germi behandelten eigentlich dramatische Themen mit komödiantischen Mitteln und sezierten dabei satirisch die Lebensweise des (Klein-)Bürgertums.
Allerdings geht Cortellesi über Anleihen und Anspielungen weit hinaus. Für alle Schrecken und jede Hoffnung hat sie eine neue Regie-Idee. Das fängt beim altmodischen 4:3-Bildformat an, um zu Beginn dem Publikum die Enge der damaligen Verhältnisse vor Augen zu führen. Danach weitet sich zwar das Bild und passt sich an heutige Sehgewohnheiten an. Trotzdem ändert sich an der Ausweglosigkeit der Situation über lange Strecken wenig.
Kochen, bohnern, begrapscht werden
Von früh bis spät ist Delias Dasein von Armut und Entbehrung geprägt. Sie muss wie die übrigen Frauen der Stadt in langen Schlangen anstehen, um das Nötigste des täglichen Bedarfs zu besorgen. Später kocht und bohnert sie, während Ivano sich mit anderen Frauen vergnügt oder draußen auf dem Platz Karten spielt. Dafür erntet sie nur Häme und Kritik. Neben der Kindererziehung muss sie außerdem ihren bettlägerigen Schwiegervater pflegen. Der heult den „schneidigen Faschisten“ hinterher und versucht sie zu begrabschen, wann immer es geht.
Trotz alledem ist da etwas, dass sie nicht den Lebensmut verlieren lässt. Neben der beschwingten Inszenierung von Alltagstätigkeiten zeigt es sich vor allem in Chansons und Musikstücken unterschiedlicher Epochen und Stilrichtungen. Von pathostriefenden Schmonzetten bis zum trockenen Rock der „Jon Spencer Blues Explosion“ umkreisen und ironisieren die Songs das Geschehen, in dem Delia ausweglos gefangen scheint.
Prügel-Szenen als Musical-Choreographie
Besonders wirkungsvoll etwa in Szenen, in denen Ivano seine Frau brutal verprügelt. Diese Gewalt wird nicht naturalistisch dargestellt, sondern gleichsam als Musical-Choreographie in Szene gesetzt, natürlich zu einer schmachtenden canzone. Jeder Schlag wird so zum Tanzschritt, jeder Sturz zur Pirouette. Leichter verdaulich wird das Ganze dadurch aber nicht, im Gegenteil: Als Zuschauer setzt man sich mit den Schmerzen erst recht auseinander.
Dabei gibt es durchaus Möglichkeiten zur Veränderung. Delias beste Freundin Marisa (Emanuela Fanelli) hat ihren Ehemann erfolgreich domestiziert und ermuntert Delia, Ivano zu verlassen. Ein Automechaniker und ihr ergebener alter Verehrer wartet nur darauf, mit ihr durchzubrennen. Und ein amerikanischer GI, der durch Zufall auf ihre blauen Flecken aufmerksam wird, bemüht sich ebenfalls um sie.
Ein Brief ändert alles
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "L'Immensità – Meine fantastische Mutter" – stimmungsvolles Familienporträt im Italien der 1970er Jahre von Emanuele Crialese
und hier eine Besprechung des Films "Meine Tochter – Figlia Mia" – provokantes italienisches Familiendrama über eine Zehnjährige mit zwei Müttern von Laura Bispuri
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Federico Fellini – Von der Zeichnung zum Film" – große Werkschau des italienischen Regisseurs im Museum Folkwang, Essen.
Ihr Plan ist weitaus explosiver als eine individuelle Flucht aus schlechten Verhältnissen. Motiviert hat ihn ein Brief für sie, den Delia eines Tages im Briefkasten findet – was sie so verunsichert, dass sie den Brief zunächst wegwirft und erst später wieder aus dem Abfall fischt. Seinen Inhalt erfährt das Publikum erst im großen, systemverändernden Finale.
Kollektive Emanzipation
Mit ihm transzendiert Cortellesis Film die persönliche Befreiung seiner Heldin in Richtung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu Frauenwahlrecht und Emanzipation im Italien der späten 1940er Jahre. Angesichts seines unbändigen Ideenreichtums und des Paukenschlags am Ende verzeiht man ihm einige kleinere Schwächen gern.