Paola Cortellesi

Morgen ist auch noch ein Tag

Delia (Paola Cortellesi) mit den Frauen von Rom. Foto: Tobis
(Kinostart: 4.4.) Rom, offene Stadt: Regisseurin und Hauptdarstellerin Paola Cortellesi porträtiert eine Nachkriegs-Italienierin, die unter Ausbeutung und häuslicher Gewalt leidet. In nostalgischem Neorealismo-Schwarzweiß, aber mit tausend originellen Einfällen – für Italiens Kassenschlager 2023.

„Guten Morgen, Ivano“ sind die ersten Worte, die Delia (Paolo Cortellesi) beim Aufstehen an ihren Mann (Valerio Mastandrea) richtet. Dafür versetzt er ihr mit dem Handrücken eine Ohrfeige, die sie fast aus dem Bett wirft. Aus purer Gewohnheit, wie schnell klar wird. Oder, wie Delia selbst immer wieder entschuldigend sagt, weil er nach zwei durchlittenen Weltkriegen eben etwas angespannt ist. Wie die gesamte italienische Gesellschaft.

 

Info

 

Morgen ist auch noch ein Tag

 

Regie: Paola Cortellesi,

118 Min., Italien 2023;

mit: Paola Cortellesi, Valerio Mastandrea, Romana Maggiora Vergano

 

Website zum Film

 

Denn die Mutter dreier Kinder, die tagsüber von einem Job zum nächsten hetzt, wird nicht nur durch Schläge ihres Mannes in ihre Schranken verwiesen. Auch in der Werkstatt, in der sie Regenschirme repariert, erhält sie deutlich weniger Lohn als der ungeschickte Neuling, den sie nebenbei anlernt. Sich darüber zu beschweren, bringt nichts: Er ist, wie ihr Boss betont, ein Mann. Da zählt weder, dass Delia besser und belastbarer ist, noch ihre dreijährige Betriebszugehörigkeit.

 

Keine schwerverdauliche Tragödie

 

Regisseurin und Hauptdarstellerin Paola Cortellesi, die auch am Drehbuch mitschrieb, siedelt „Morgen ist auch noch ein Tag“ in Rom 1946 an – passenderweise im neorealistisch anmutenden Schwarzweiß. Doch ihr Debütfilm über häusliche Gewalt und Frauenunterdrückung gerät nicht zur schwerverdaulichen Tragödie; ansonsten wäre er kaum zum erfolgreichsten Kinofilm 2023 in Italien geworden.

Offizieller Filmtrailer


 

Altmodisches Format für enge Verhältnisse

 

Vielmehr schließt ihre Fabel vom Aus- und Aufbruch einer Frau an das Genre der Commedia all’italiana an, einer italienischen Spezialität der späten 1950 und frühen 1960er Jahre. Filme wie „Scheidung auf Italienisch“ (1962) mit Marcello Mastroianni oder „Signore e Signori“ (1965) von Pietro Germi behandelten eigentlich dramatische Themen mit komödiantischen Mitteln und sezierten dabei satirisch die Lebensweise des (Klein-)Bürgertums.

 

Allerdings geht Cortellesi über Anleihen und Anspielungen weit hinaus. Für alle Schrecken und jede Hoffnung hat sie eine neue Regie-Idee. Das fängt beim altmodischen 4:3-Bildformat an, um zu Beginn dem Publikum die Enge der damaligen Verhältnisse vor Augen zu führen. Danach weitet sich zwar das Bild und passt sich an heutige Sehgewohnheiten an. Trotzdem ändert sich an der Ausweglosigkeit der Situation über lange Strecken wenig.

 

Kochen, bohnern, begrapscht werden

 

Von früh bis spät ist Delias Dasein von Armut und Entbehrung geprägt. Sie muss wie die übrigen Frauen der Stadt in langen Schlangen anstehen, um das Nötigste des täglichen Bedarfs zu besorgen. Später kocht und bohnert sie, während Ivano sich mit anderen Frauen vergnügt oder draußen auf dem Platz Karten spielt. Dafür erntet sie nur Häme und Kritik. Neben der Kindererziehung muss sie außerdem ihren bettlägerigen Schwiegervater pflegen. Der heult den „schneidigen Faschisten“ hinterher und versucht sie zu begrabschen, wann immer es geht.

 

Trotz alledem ist da etwas, dass sie nicht den Lebensmut verlieren lässt. Neben der beschwingten Inszenierung von Alltagstätigkeiten zeigt es sich vor allem in Chansons und Musikstücken unterschiedlicher Epochen und Stilrichtungen. Von pathostriefenden Schmonzetten bis zum trockenen Rock der „Jon Spencer Blues Explosion“ umkreisen und ironisieren die Songs das Geschehen, in dem Delia ausweglos gefangen scheint.

 

Prügel-Szenen als Musical-Choreographie

 

Besonders wirkungsvoll etwa in Szenen, in denen Ivano seine Frau brutal verprügelt. Diese Gewalt wird nicht naturalistisch dargestellt, sondern gleichsam als Musical-Choreographie in Szene gesetzt, natürlich zu einer schmachtenden canzone. Jeder Schlag wird so zum Tanzschritt, jeder Sturz zur Pirouette. Leichter verdaulich wird das Ganze dadurch aber nicht, im Gegenteil: Als Zuschauer setzt man sich mit den Schmerzen erst recht auseinander.

 

Dabei gibt es durchaus Möglichkeiten zur Veränderung. Delias beste Freundin Marisa (Emanuela Fanelli) hat ihren Ehemann erfolgreich domestiziert und ermuntert Delia, Ivano zu verlassen. Ein Automechaniker und ihr ergebener alter Verehrer wartet nur darauf, mit ihr durchzubrennen. Und ein amerikanischer GI, der durch Zufall auf ihre blauen Flecken aufmerksam wird, bemüht sich ebenfalls um sie.

 

Ein Brief ändert alles

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "L'Immensità – Meine fantastische Mutter" – stimmungsvolles Familienporträt im Italien der 1970er Jahre von Emanuele Crialese

 

und hier eine Besprechung des Films "Meine Tochter – Figlia Mia" – provokantes italienisches Familiendrama über eine Zehnjährige mit zwei Müttern von Laura Bispuri

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Federico Fellini – Von der Zeichnung zum Film" – große Werkschau des italienischen Regisseurs im Museum Folkwang, Essen.

 

Doch romantisch grundierter Tradition folgend harrt Delia aus und hofft, dass sich für ihre Tochter Marcella (Romana Maggiora Vergano) schließlich alles zum Besseren wenden wird. Erst als sich abzeichnet, dass auch Marcella mit ihrem künftigen Bräutigam aus wohlhabender Familie in dieselbe Falle gehen dürfte, in die sie selbst einst geraten ist, entschließt sich Delia, aktiv zu werden.

 

Ihr Plan ist weitaus explosiver als eine individuelle Flucht aus schlechten Verhältnissen. Motiviert hat ihn ein Brief für sie, den Delia eines Tages im Briefkasten findet – was sie so verunsichert, dass sie den Brief zunächst wegwirft und erst später wieder aus dem Abfall fischt. Seinen Inhalt erfährt das Publikum erst im großen, systemverändernden Finale.

 

Kollektive Emanzipation

 

Mit ihm transzendiert Cortellesis Film die persönliche Befreiung seiner Heldin in Richtung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu Frauenwahlrecht und Emanzipation im Italien der späten 1940er Jahre. Angesichts seines unbändigen Ideenreichtums und des Paukenschlags am Ende verzeiht man ihm einige kleinere Schwächen gern.