Die Mathematikerin Marguerite Hoffmann (Ella Rumpf) ist Doktorandin an der Pariser Elite-Hochschule „École Normale Supérieur“ und dort eine Außenseiterin – nicht nur, weil sie eine der wenigen Frauen an ihrer Fakultät ist. Die Hochbegabte verhält sich zugleich schüchtern und sozial ungeübt; wenn sie nervös wird, atmet sie durch den Mund.
Info
Die Gleichung ihres Lebens
Regie: Anna Novion,
112 Min., Frankreich/ Schweiz 2023;
mit: Ella Rumpf, Jean-Pierre Darroussin, Julien Frison
Weitere Informationen zum Film
Ein Fehler zerstört alles
Dafür hat Marguerite an einer Lösung für die Goldbachsche Vermutung gearbeitet, einem Klassiker der mathematischen Rätsel. Dabei ist ihr ein einziger Fehler unterlaufen, auf den ausgerechnet Werners neuer Favorit Lucas (Julien Frison) in aller Öffentlichkeit aufmerksam macht. Jahre der Forschung waren vergeblich; maßlos enttäuscht wirft sie alles hin und verlässt die Universität.
Offizieller Filmtrailer
Mit Muster-Erkennung zum Erfolg
Obwohl Werners Verhalten feige war, hat er in einem nicht unrecht: Um der harten Realität im Forschungsbetrieb standhalten zu können, braucht Marguerite einen Perspektivwechsel. An ihm lässt der Film nun das Publikum teilhaben. Im Berufsleben eckt sie zunächst an: Bei der Schulung für eine Produkt-Umfrage macht sie die Trainerin darauf aufmerksam, dass die Fragestellung das Ergebnis statistisch verzerrt – und darf daraufhin ihre Sachen packen.
Doch allmählich wendet sich das Blatt; immer öfter erweisen sich Marguerites lösungsorientierte Strategien als erfolgreich. Dank der ausgezeichneten Kameraführung gelingt dem Film eine große Leistung: dem Zuschauer beizubringen, die Welt mit Marguerites Augen zu sehen. Dabei geht es um Muster- und Problemerkennung, richtige Fragestellungen und kreative Lösungswege.
Endlich erwachsen werden
Diese besondere Form der Weltwahrnehmung spiegelt sich im Gesicht der Protagonistin. Ella Rumpf spielt jede Nuance dieser Figur aus, die einem mit jeder Minute mehr ans Herz wächst. Obwohl ihr weiterer Werdegang absehbar ist, geht es nicht klischeehaft um die Verwandlung vom hässlichen Entlein zur strahlenden Gewinnerin, die endlich auch einmal ihre Brille abnimmt.
Regisseurin Anna Novion liegt vor allem daran, zu beobachten, wie sich Marguerite einer für sie neuen Situation stellt: dem für Inselbegabte wichtigen Schritt ins Erwachsenenleben, heraus aus dem bisherigen Schutzbereich und hinein ins pralle Leben. Wie sich herausstellt, hat Marguerite einen gewissen Nachholbedarf.
Mit Mah-Jongg Geld verdienen
Überraschend zielstrebig findet sie eine Wohnung und ein Auskommen: Sie macht Karriere in den Hinterzimmern chinesischer Restaurants und spielt dort Mah-Jongg um Geld. In ihrer Freizeit besucht sie mit ihrer Mitbewohnerin einen Club; während sie die Tanzende betrachtet, überdenkt sie ihr Verhältnis zum eigenen Körper. Ungelenk, aber entschlossen verschafft sie sich in einer der amüsantesten Szenen des Films ihren ersten Orgasmus.
Dass all das manchmal etwas märchenhaft leicht läuft, muss man in Kauf nehmen. Dafür umschifft die Handlung einseitige Verhältnisse oder eindimensionale Figuren. So übt Marguerites Mutter Suzanne (Clotiulde Courau) zwar einen gewissen Druck auf ihre Tochter aus, aber der Film zeigt auch Verständnis für ihre Position. Ebenso ist Doktorvater Werner von Opportunismus und Eitelkeit gekennzeichnet, legt aber auch ehrliche Fürsorge für seine Schülerin an den Tag und schätzt ihre Verwundbarkeit richtig ein.
Zwischen Mathe-Tapeten leben
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die Theorie von Allem" – hervorragend inszeniertes, aber undurchsichtiges Physik-Vexierspiel von Timm Kröger
und hier eine Besprechung des Films "The Imitation Game – Ein streng geheimes Leben" – Biopic über das Informatik-Genie Alan Turing von Morten Tyldum mit Benedict Cumberbatch
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und hier einen Beitrag über den Film "Die Poesie des Unendlichen" – Biopic über ein indisches Mathematik-Genie von Matthew Brown.
Damit das Publikum auch ohne mathematische Vorkenntnisse in ihre Welt eintauchen kann, lässt der Film klugerweise Computer-Monitore und Power-Point-Projektionen beiseite. Hier wird noch mit Kreide auf große, verschiebbare Tafeln geschrieben, dann weggewischt und darübergeschrieben. Und als Marguerite ins Exil geht, müssen eben die Tapeten für ihre wuchernden Formeln herhalten, so dass sie wieder buchstäblich in der Mathematik lebt.
Formeln sind realistischer als Leben
Das erinnert streckenweise an Darren Aronofskys Debütfilm „Pi“ (1998) über die Suche eines paranoiden Zahlen-Genies nach der Weltformel. Beide Filme eint, dass sie Mathematik und ihre geistigen Tücken wirklich ernst nehmen, anstatt dass sie – wie zuletzt in Timm Krögers verspieltem Thriller „Die Theorie von Allem“ – nur als respektheischender Gimmick dient.
Formeln sind in „Die Gleichung ihres Lebens“ gewissermaßen wirklichkeitsnäher als das Dasein selbst. Es gönnt der Heldin jedoch ein tröstliches Happy-End: Am Ende kehrt sie mit einem Paukenschlag in die akademische Öffentlichkeit zurück und ist dabei sehr gereift.