Unter den Meister-Regisseuren des 20. Jahrhunderts hat Luis Buñuel eine Ausnahmestellung inne: Seine ersten beiden (Kurz-)Filme „Ein andalusischer Hund“ (1929) und „Das Goldene Zeitalter“ („L’âge d’or“, 1930) sind weltberühmt als radikale Umsetzung surrealistischer Verfahren in Kino. Und sein ab 1967 in Frankreich entstandenes Spätwerk – sechs Filme, darunter „Belle de Jour“ (1967) oder „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ (1972) – ist den meisten Cineasten vertraut; der letztgenannte Filmtitel wurde gar zur Redensart.
Info
Buñuel –
Filmemacher des Surrealismus
Regie: Javier Espada,
83 Min., Spanien 2021;
Weitere Informationen zum Film
Ein Leben im Zeichen von Buñuel
Espada wurde wie Buñuel selbst in der spanischen Region Aragón in Calanda geboren, einer Kleinstadt mit knapp 4000 Einwohnern. Dort hat er ab dem Jahr 2000 das „Centro Buñuel de Calanda“ als Gründungsdirektor 16 Jahre lang geleitet; ebenso zehn Ausgaben des „Calanda International Film Festival“. Zudem hat er in neun spanischen Städten, in vier Ländern Westeuropas und Mexiko Ausstellungen über Buñuel kurartiert. Ihn einen Buñuel-Spezialisten zu nennen, wäre wohl untertrieben.
Offizieller Filmtrailer OmU
Hunderte Filmschnipsel, nur Sekunden lang
Seine zweifellos profunde Kenntnis des Gesamtwerks des Filmregisseurs kommt Espada aber als Doku-Macher in die Quere. Mit den wichtigsten biographischen Stationen von Buñuels Leben hält er sich kaum auf; sie werden nur kurz und kursorisch angetippt. Auch die Entstehung seiner bedeutendsten Filme und die Zusammenarbeit mit seinen wichtigsten Mitarbeitern ist ihm nur wenige Worte wert – offenbar setzt er solches Basiswissen als bekannt voraus.
Stattdessen hat Espada in mühseliger Kleinarbeit Filmarchive durchforstet, um etliche Sequenzen und Foto-Dokumente restaurieren zu lassen. Daraus webt er eine Art Kino-Patchwork: einen überbordenden Bewegtbild-Teppich aus vielen Dutzend, wenn nicht Hunderten von Filmschnipseln, oft nur wenige Sekunden lang. Verbunden nur durch seinen mal launigen, mal raunenden Kommentar und Buñuel-Zitate – vor allem wohl aus dessen Autobiographie „Mein letzter Seufzer“ (1983).
Fehlender Kontext
Aus den Fundstücken, die Espada wie Mosaiksteine zusammensetzt, entsteht aber kein klares Bild. Es fehlt der Kontext, um zu verstehen, welche Rolle diese Figur oder jene Requisite in der jeweiligen Passage spielt. Nun sind Buñuels Filme alles andere als leicht nachzuerzählen: Zwar haben die meisten durchaus eine lineare Handlung, doch die ist durchsetzt von Abschweifungen, traum- oder schockartigen Bildern – Kino-Surrealismus eben. Da empfiehlt sich eher, ein paar zentrale Werke ausführlich zu analysieren, um die Arbeitsweise des Regisseurs zu erklären.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Belle de Jour – Schöne des Tages" – faszinierender Erotik-Klassiker mit Catherine Deneuve von Luis Buñuel
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Der Stachel des Skorpions" – sechs surreale Film-Installationen als “Cadavre exquis nach Luis Buñuels »L’Âge d’or«” in München + Darmstadt
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Bewusste Halluzinationen – Der filmische Surrealismus" im Deutschen Filmmuseum, Frankfurt/Main.
Wie sich Ratlosigkeit widerspiegelt
So erwähnt Espada das „Calanda-Wunder“ von 1640, demzufolge ein frommer Mann, der ein Bein verloren hatte, mithilfe von Engeln ein neues erhielt. Dann schneidet er Aufnahmen von Einbeinigen und Beinprothesen in Buñuel-Filmen aneinander – Bezug unklar. Sehr gläubig wirken die Protagonisten jedenfalls nicht.
Oder Espada fasst wiederkehrende Motive so summarisch zusammen, dass sie maximal trivial erscheinen. Etwa: „Eine Vielzahl von Tieren bevölkert Buñuels Filme, die unsere Ratlosigkeit in Bezug auf das Leben, unsere Wünsche und Ängste widerspiegelt.“ Solche Gemeinplätze spiegeln eher die Ratlosigkeit ihres Verfassers in Bezug auf konkrete Aussagen mit inhaltlicher Relevanz wider.
Besser volle Länge als Mini-Häppchen
Wenn Buñuels Schaffen seinen Worten zufolge das Ziel hatte, die in bequemem Konformismus befangenen Betrachter zu verstören, dann ist ihm das bei Espada geglückt. Dem schwebte offenbar ein Dokumentarfilm vor, der jenseits geläufiger Schemata neue und überraschende Einsichten bietet, indem er wild mit Archiv-Material jongliert – als angewandter Surrealismus eben.
Doch seine Methode löst eher andere Assoziationen oder Wünsche aus: sich einige der hier zu Mini-Häppchen zerstückelten Filmklassiker im Original und voller Länge anzusehen.