Diese Geschichte ist erst 25 Jahre her, doch sie spielt in einer weitgehend zerstörten Welt: den Altstadt-Quartieren von Schanghai mit ihren shikumen. Solche mehrstöckigen Backstein-Reihenhäuser für die Mittelklasse wurden vor allem in den 1930er Jahren gebaut; zeitweise sollen sie vier Fünftel aller Einwohner der Stadt beherbergt haben.
Info
Shanghai, Shimen Road
Regie: Haolun Shu,
85 Min., China 2011;
mit: Ewen Cheng, Xufei Zhai, Lili Wang
Emigration oder escort lady
In einem solchen Haus lebt der 17-Jährige Xiaoli (Ewen Cheng), dessen Mutter in die USA emigriert ist, mit seinem Großvater. Nebenan wohnt die gleichaltrige Lanmi (Xufei Zhai); ihr macht der verliebte Xiaoli mit Gefälligkeiten vergeblich den Hof. Das Arbeiterkind will höher hinaus: Solange sie nicht in den Westen auswandern kann, wirft sie sich im Luxushotel als escort lady reichen Ausländern an den Hals.
Offizieller Filmtrailer
Jugend vor dem Tiananmen-Massaker
Dagegen hat Lili (Lili Wang) ein Auge auf Xiaoli geworfen. Die Tochter eines hohen Funktionärs ist erst vor kurzem aus Beijing nach Schanghai umgezogen. Sie weiß von den Studenten-Protesten, die im Sommer 1989 die Hauptstadt lahm legen, und will mit ihrem Klassenkameraden dorthin. Doch Xiaoli zögert: Er schwankt genauso zwischen zwei Mädchen wie zwischen Anpassung und Revolte.
Coming of age in Chinas jüngster Vergangenheit – die schon sehr lange vergangen scheint. Indem er Erinnerungen an seine eigene Jugend verfilmt, erzählt Regisseur Haolun Shu vom Werdegang seiner Generation, die Ende der 1980er Jahre wie in Osteuropa auf mehr Freiheiten und Systemveränderung drang. Ihre überschwänglich diffusen Hoffnungen begrub das Tiananmen-Massaker vom 4. Juni 1989 mit mehreren tausend Toten.
Lebensgefühl wie in Leningrad oder Ostberlin
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit
Lesen Sie hier eine Besprechung des Animationsfilms "Alois Nebel" von Tomáš Luňák über die "Samtene Revolution" 1989 in der tschechoslowakischen Provinz
und hier einen Beitrag über den Film "A Touch of Sin" - groteskes Sozialdrama von Jia Zhangke über Ausbeutung + Gewalt im heutigen China
und hier einen Bericht über den Film "Shanghai" - opulenter Spionage-Thriller in Schanghai 1941 von Mikael Hafström mit John Cusack + Gong Li.
Wie das Lebensgefühl der Umbruchphase von 1989/90, das in Chinas Großstädten offenbar dem in Leningrad, Warschau oder Ostberlin sehr ähnelte. Der Rahmen ist noch klassisch kommunistisch: karge Gemeinschaftswohnungen mit allgegenwärtigem Klatsch und Spitzeln, aber auch kleine Freuden beim gemeinsamen Tee oder Schnaps.
Abriss für Beton-Wohntürme
Doch die Sitten haben sich gelockert: Xiaoli fotografiert viel und eifert seinem Vorbild Henri Cartier-Bresson nach, Lanmi hört Pop-Kassetten auf dem Kassetten-Recorder, beide tragen Jeans, und alle träumen von einer Zukunft ohne Drill und voller Möglichkeiten. Das rekonstruiert Regisseur Shu sehr authentisch mit Liebe zum Detail; die Bilder wirken mit ihren fahlen Farben wie aus Ostblock-Filmen von damals.
So entsteht ein wunderbar stimmungsvoller Schwanengesang auf die Perestroika-Periode à la chinoise. Wobei Enttäuschung und Ernüchterung dort noch radikaler ausfielen als im früheren Warschauer Pakt: Am Ende streift die Kamera durch menschenleere Gassen. Die shikumen sind verwaist, verfallen und zum Abriss vorgesehen. Dahinter ragen 30-stöckige Wohntürme aus Beton in den bleichen Himmel.