Niels Bolbrinker+ Thomas Tielsch

Vom Bauen der Zukunft – 100 Jahre Bauhaus

Die für das Bauhaus charakteristische Zuordnung der Grundfarben rot, gelb und blau zu den geometrischen Formen Quadrat, Dreieck und Kreis geht auf Kandinskys Farb- und Formenlehre zurück. Foto: © Neue Visionen Filmverleih
(Kinostart: 26.4.) Auf die eminente Bedeutung des Bauhauses können sich alle einigen – aber was genau bedeutet das? Seinen fortwirkenden Geist finden die Filmemacher Bolbrinker und Tielsch vielerorts; ihre Doku ist so anregend und vielseitig wie ihr Gegenstand.

Großbauten werfen ihre Schatten voraus: Zum 100-jährigen Jubiläum der Bauhaus-Gründung leisten sich seine drei historischen Standorte Weimar, Dessau und Berlin 2019 üppig bemessene Neu- oder Erweiterungsbauten für Museen. Die übrigen Gedenk-Aktivitäten, auf einer eigenen Website gebündelt, sind kaum zu überblicken – sie reichen bis zu Bauhaus-Ausstellungen in China.

 

Info

 

Vom Bauen der Zukunft – 100 Jahre Bauhaus

 

Regie: Niels Bolbrinker und Thomas Tielsch

95 Min., Deutschland 2018;

mit: Torsten Blume, Rosan Bosch, Christian Mio Loclair

 

Weitere Informationen

 

Auf die Bedeutung der „legendären Hochschule für Gestaltung“, so die Website „Bauhaus100“, als „wirkungsvollster Exportartikel von Kultur aus Deutschland im 20. Jahrhundert“ können sich alle einigen. Daher haben die Filmemacher Niels Bolbrinker und Thomas Tielsch ebenso viel im Ausland wie an den heimischen Bauhaus-Stätten gedreht. Das bekommt ihrer Doku gut: Sie gerät ähnlich unkonventionell und vielseitig wie ihr Gegenstand.

 

Auf der Suche nach Bauhaus-Geist

 

Am besten macht man sich bereits vor dem Anschauen kurz mit den wichtigsten Bauhaus-Stationen und -Meistern vertraut. Denn die meisten tauchen im Film zwar auf, aber in bunter Reihe und wechselnder Gewichtung. Dem Regie-Duo liegt wenig an einer konventionellen Kunstgeschichts-Doku, die chronologisch Etappe für Etappe abschreitet. Stattdessen suchen sie nach dem spezifischen Geist des Bauhauses – damals und heute.

Offizieller Filmtrailer


 

 2700 Zeichnungen in der 41. Auflage

 

Den finden sie bei ganz verschiedenen Akteuren. Etwa beim Bauhaus-Architekten Ernst Neufert (1900-1986): Er veröffentlichte 1936 eine „Bauentwurfslehre“, die Bauaufgaben anhand menschlicher Bewegungsabläufe normiert. Neufert vermaß genau, wie viel Platz alle möglichen Aktivitäten benötigen und wie folglich das Umfeld zu gestalten sei. Für einen Langzeit-Bestseller: Sein Standardwerk mit 2700 Zeichnungen wurde in 18 Sprachen übersetzt – 2016 erschien die 41. Auflage.

 

Eines der ersten Bauprojekte nach diesen Grundsätzen war die Arbeitersiedlung Dessau-Törten: Ihre 88 Reihenhäuser wurden 1926/8 errichtet, in nur eineinhalb Bautagen pro Haus. Bolbrinker und Tielsch besuchen die jetzigen Bewohner, meist Kinder der Erstbezieher, und lassen sich Fensterbänder, Küchenzeilen oder Kaninchenställe zeigen.

 

Mini-Häuser gegen Miet-Explosion

 

Völlig anders sehen die „Tiny Houses“ aus, die Van Bo Le-Mentzel aus Laos gestaltet, der in Berlin studiert hat. Sie ähneln bewohnbaren Kleiderschränken – Tisch- und Sitzplatten werden nach Bedarf wie Schubladen ausgezogen und zugeschoben. Solche Mini-Häuser trotzen jeder Miet-Explosion.

 

Dagegen geht die dänische Designerin Rosan Bosch sehr großzügig mit Raum um. Ihre Klassenzimmer gleichen Erlebnislandschaften, in denen die Sprösslinge sich auf einem „blauen Berg“ versammeln, in dessen Höhle zurückziehen oder in Nischen gemeinsam lernen können. Die herkömmliche Ausrichtung von Schulmöbeln in Reih und Glied sei überholt, glaubt Bosch.

 

„Volksbedarf statt Luxusbedarf“

 

Hintergrund

 

Website aller Aktivitäten zu 100 Jahre Bauhaus

 

Lesen Sie hier eine Kritik der Ausstellung "Bauhaus - Alles ist Design" zur Wirkungsgeschichte des Bauhauses in der Bundeskulturhalle Bonn

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Klee & Kandinsky – Nachbarn, Freunde, Konkurrenten" über das Verhältnis der beiden Bauhaus-Meister im Lenbachhaus, München

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Marcel Breuer: Design und Architektur" – umfassende Werkschau im Bauhaus Dessau

 

und hier eine Rezension der Ausstellung "Kosmos Farbe: Itten – Klee" über die Bauhaus-Künstler Johannes Itten + Paul Klee im Martin Gropius Bau, Berlin

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Feininger aus Harvard – Zeichnungen, Aquarelle und Fotografien" mit Bauhaus-Arbeiten von Lyonel Feininger in Berlin + München.

 

Dass uniforme und monotone Standardisierung auch ein Bauhaus-Erbe ist, verschweigt die Doku nicht. Dessen zweiter Direktor Hannes Meyer gab als bekennender Linker 1928 die Parole aus: „Volksbedarf statt Luxusbedarf“. Nun waren billige Lösungen für industrielle Fertigung gefragt. Diesen Ansatz übertrug die „Charta von Athen“, die 1933 unter Federführung von Le Corbusier entstand, auf die Architektur: Serielle Entwürfe für Trabantenstädte in autogerechten Städten mit funktional getrennten Vierteln.

 

Zwar hatte das Bauhaus damit nichts zu tun; es wurde 1933 unter NS-Druck aufgelöst. Doch das 1937 als Teil der Universität von Chicago gegründete „New Bauhaus“, an dem auch die Bauhaus-Emigranten László Moholy-Nagy und Ludwig Mies van der Rohe lehrten, bildete Generationen von Nachkriegs-Architekten und -Designern aus. Was sie angerichtet haben, begutachten die Filmemacher in der nach dem Bauhaus-Erfinder benannten „Gropiusstadt“ von Westberlin: Wohntürme und Betonsilos, die jedes menschliche Maß verhöhnen.

 

Seilbahnen für Latino-Slums

 

Bauhaus-Denken lebe anderswo fort, argumentiert die Doku: etwa im Planungs-Büro „Urban-Think Tank“ von Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner. Die beiden Architekten machen Favelas in Lateinamerika bewohnbarer, indem sie Freiflächen und Sportplätze einrichten oder mit Seilbahnen Slums erschließen, damit deren Bewohner schneller die Innenstadt erreichen. Mit Primärfarben und Musterbüchern hat das wenig zu tun – aber es schafft einfach und günstig mehr Lebensqualität.

 

Gestalteter und gebauter Humanismus – auf diese Kurzformel lässt sich das Bauhaus-Verständnis der Filmemacher bringen. Man muss nicht jedes ihrer Fundstücke bestaunen; ob sich Bauhaus-Prinzipien tanzen lassen, darf bezweifelt werden. Anderes fehlt: Bildende Kunst von Wassily Kandinsky, Paul Klee oder Lyonel Feininger spielt kaum eine Rolle. Aber auf- und anregend ist diese tour d’horizon von Weimar 1919 bis zur Gegenwart allemal – und damit ganz im Sinne der Bauhäusler.