«Die Serenissima hatte noch richtig dicke Eier, aber heute regiert ja bloß noch der Kommerz», schimpft Tudy Sammartini. Sie liebt ihre Heimatstadt heiß und innig – doch für das, was aus Venedig in den letzten Jahrzehnten geworden ist, hat sie nur noch Verachtung übrig.
Sammartini entstammt einer adeligen Familie, der einst ein Palazzo am Canal Grande gehörte. Sie hat sich als Antiquarin und Autorin in einen der wenigen Winkel der Lagunen-Stadt zurückgezogen, die noch nicht extrem von Touristenströmen überflutet werden. Die Dame wird nicht aus Venedig wegziehen, ebenso wenig wie Giorgio Gross und seine Frau Laura. Der Ex-Gondoliere plant nur noch einen Umzug – und zwar auf die Friedhofsinsel San Michele.
Requiem auf baldiges Ableben
Venedig ist eine sterbende Stadt. Regisseur Andreas Pichler dokumentiert den oftmals genüsslich romantisierten Verfall der Serenissima, wie die bis 1797 bestehende Adels-Republik von Venedig genannt wurde, als Requiem auf die Unvermeidbarkeit ihres baldigen Ablebens.
Offizieller Filmtrailer
So viele Einwohner wie nach der großen Pest
Der Film folgt vier Bewohnern ein paar Monate lang durch ihr Leben, das in der Lagunen-Stadt kaum noch zu führen ist. Im Jahre 2030 werden laut einer Studie in Venedig keine Menschen mehr wohnen. Vor 20 Jahren hatte die Stadt noch 125.000 Einwohner, heute sind es noch 58.000: ungefähr so viele wie nach der großen Pest im Jahr 1438.
Flavio Scaggiante organisiert Umzüge in Venedig; er hat schon vielen Bewohnern dabei geholfen, ihre Möbel auf das Festland zu schaffen. Inzwischen musste er auch seinen eigenen Umzug über die Bühne bringen, weil er sich seine Wohnung nicht mehr leisten kann. Die Mieten steigen ins Unermessliche: Jeglicher Wohnraum wird in Ferien-Appartements umgewandelt oder steht leer. Wer Immobilien kaufen will, muss tief in die Tasche greifen; der Quadratmeter kostet bis zu 12.000 Euro.
1000 Ozean-Riesen jährlich in der Lagune
Solche Summen können Einheimische kaum noch aufbringen. Also muss der Makler und Bau-Sachverständige Pietro Codato an Investoren verkaufen, die Immobilien nicht als Wohnraum betrachten, sondern als Spekulations-Objekte. Spekulativ auch deshalb, weil sie einfach wegzubröseln drohen. Codato will eigentlich nur noch fort aus der Stadt; seine Gewissensbisse sind dabei, sich in eine Depression zu verwandeln.
Regisseur Pichler ist in Südtirol aufgewachsen; er kennt also Massen-Tourismus aus seiner eigenen Heimat. In Venedig treibt der Tourismus jedoch giftigere Blüten; die Stadt hat sich an ihn verkauft, ihre Bewohner ebenfalls. Mittlerweile ist der Kommerz globalisiert: Die Stadt verwaltet nur noch Verluste, während die Gewinne in den Kassen großer Konzerne landen. Etwa bei den Kreuzfahrt-Reedereien, die jährlich mehr als 1000 Ozean-Riesen in das sensible Öko-System der Lagune schicken: Jedes Schiff spuckt mehrere Tausend Tagesgäste aus und schickt sie auf den Treck zum Markusplatz.
Zweckoptimismus mit Sprizz hinunterspülen
Die letzten Venezianer kommen ausführlich zu Wort in Pichlers Film: Ihnen schwant, dass sie dieses Spiel zu lange mitgespielt haben. Junge Leute sind weggezogen; geblieben sind die Alten, die sich jetzt in Protest-Listen eintragen oder bei Demonstrationen zusammenfinden, um zu verhindern, dass die letzten Reste städtischer Infrastruktur auch noch den Bach runter gehen.
«Das Venedig Prinzip» ist ein frustrierender Film; von wohlwollenden Perspektiven keine Spur. Selbst der zynische Zweckoptimismus der übrig gebliebenen Eingeborenen kann nur noch mit einem Glas Sprizz hinuntergespült werden. Woran das liegt, machen Kamera-Fahrten durch pittoreske Gassen und über die Kanäle deutlich: Die Schönheit der Stadt überstrahlt noch alle Absurditäten.
Zur Rettung wäre Europas Einsatz gefragt
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau
bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Besprechung der "Architektur Biennale 2012" über deutsche Beiträge zur 13. Architektur-Ausstellung in Venedig
und hier einen Beitrag über den Film "To Rome With Love" von Woody Allen
sowie eine Rezension der Ausstellung "Rom sehen und sterben..." über deutsche Künstler in der ewigen Stadt in der Kunsthalle Erfurt.
Europa sollte sich hier vielleicht auch als Institution gefordert fühlen, wo Einwohner und Besucher, Kommunal- und Landesregierung versagt haben. Venedig als Disneyland könnte man getrost untergehen lassen. Als eines der geschichtsträchtigsten Ideen-Gebilde Europas verdient es aber politischen Einsatz für seine Rettung über eine kommerzielle Ausbeutung hinaus.
Lust an der schönen Leiche
Solche Visionen sind in diesem Film allerdings nicht zu finden. Regisseur Pichler bleibt an der Oberfläche einer Bestandsaufnahme hinreichend bekannter Tatsachen, bietet aber leider keine Lösungsansätze. Er scheint auch nicht nach ihnen gesucht zu haben. Die morbide Lust an der schönen Leiche hat wohl wieder einmal gesiegt.