
Für die Erwärmung der Erdatmosphäre haben Menschen kein Gespür. Das Hauptproblem an dieser epochalen Umwälzung sei ihre Größenordnung, betont der Naturfotograf und Diplom-Geograf James Balog: Statistiken voller Zahlenkolonnen und abstrakte Computer-Modelle sagten den Leuten wenig.
Info
Chasing Ice
Regie: Jeff Orlowski
72 Min., USA 2012
mit: James Balog, Adam Lewinter, Svavar Jónatansson
Fotografieren bei minus 40 Grad
Das klingt einfach, ist aber immens aufwändig, wie Jeff Orlowskis Dokumentation zeigt. Balogs Team musste zunächst geeignete Spezial-Kameras konstruieren, die auch bei minus 40 Grad und widrigsten Witterungsbedingungen verlässlich Schnappschüsse machen: je einen pro Stunde. 25 solcher Kameras installierte das Team auf Island, Grönland, in Alaska und Montana.
Offizieller Filmtrailer
Ballons, aus denen Luft entweicht
Was nach drei Jahren Arbeit mit einigen Rückschlägen zusammenkommt, ist atemberaubend. Im Zeitraffer sieht man, wie die Gletscher dahinsiechen. Ihre riesigen Packeis-Zungen schrumpfen dramatisch: Sie verlieren an Volumen und ziehen sich gleichzeitig zurück wie „Ballons, aus denen die Luft entweicht“, stellt der Fotograf fest.
Natürlich wird das Phänomen auch vermessen. Doch alle Zahlenangaben über soundsoviel Höhenverlust und Rückzug ins Binnenland verblassen angesichts der Anschauung, wenn Balog eine nur wenige Monate alte Panorama-Aufnahme vor die aktuelle Ansicht hält: Von gewaltigen Eismassen ist kaum etwas übrig geblieben.
Dunkler Staub bohrt Löcher in Eisdecke
Allerdings belässt es Regisseur Orlowski nicht bei Schock-Effekten. Zentrale Ursachen und Auswirkungen des Klimawandels – etwa die Konzentration von Kohlendioxid-Partikeln in der Luft oder der absehbare Anstieg der Meeresspiegel – spricht er ebenfalls an. Er lässt auch kommentarlos Klimawandel-Skeptiker der US-Republikaner in TV-Ausschnitten zu Wort kommen: Ihre geifernden Tiraden desavouieren sich selbst.
Dagegen lernt man einiges über Glaziologie, der Wissenschaft von Eis und Schnee; etwa, warum sich runde Schmelzlöcher in Gletscher bohren. Dafür ist Kryokonit verantwortlich: Dunkle Staub-Ablagerungen wie Ruß absorbieren mehr Sonnenlicht, was den Schnee darunter schmelzen lässt. Solche Löcher können sich kilometertief in die Eisdecke bohren. Sie wird in so genannten Gletschermühlen von rotierendem Schmelzwasser unterspült; dann brechen ganze Inseln ab.
Eisberg von der Größe Manhattans
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit
Lesen Sie hier eine Besprechung des Films “Promised Land” – Politthriller über Gas-Förderung mittels Fracking von Gus van Sant
und hier einen Bericht über den Film "Samsara" – HD-Bilderbogen über Naturschönheiten + ihre Zerstörung von Ron Fricke
und hier einen Beitrag über den Film "How I ended this summer" – Drama auf einer Polarstation von Alexej Popogrebsky, prämiert mit drei Silbernen Bären bei der Berlinale 2010.
Oder zwei junge Helfer tagelang ausharren, um das Kalben des Ilulissat-Gletschers in Grönland zu filmen. Dann ist es endlich soweit: Mit donnerndem Getöse bricht ein Eisschild ab und treibt wie ein gigantischer Wal ins Meer hinaus. Der Eisberg hat das Ausmaß der Halbinsel von Manhattan, aber drei Mal soviel Volumen: der größte derartige Vorgang, der je beobachtet wurde.
Wie im „National Geographic“
Solche special effects mischt Orlowski geschickt mit Sachinformationen und human interest über das Team der Foto-Haudegen; ähnlich wie die Erfolgs-Formel des Magazins „National Geographic“, für das Balog arbeitet. Wie eine gute Titel-Story ist „Chasing Ice“ sehr ökonomisch komponiert und wurde nicht künstlich auf die übliche Spielfilmlänge von 90 Minuten aufgeblasen. In dieser Doku ist keine Einstellung überflüssig – und fast jede ein außergewöhnlicher Augenschmaus.