
Der Auftakt verspricht eine aufregende Nacht: Ein junges Paar, Ali (Kate Moran) und Matthias (Niels Schneider), und ihr Transgender-Dienstmädchen Udo erwarten Gäste für eine Swinger-Party. Im eleganten Designer-Apartment stehen Drinks und Drogen bereit; die high tech-Jukebox spielt zur Stimmung passende Musik, sobald man nur die Hand auflegt.
Info
Begegnungen nach Mitternacht
(Les rencontres d´après minuit)
Regie: Yann Gonzalez,
93 Min., Frankreich 2013;
mit: Kate Moran, Niels Schneider, Nicolas Maury
Einfach nicht zur Sache kommen
Das bekennen alle freimütig; ausführlich erzählen sie von ihren Fantasien und Lastern. Wenn sie sich aber anschicken, jene auszuleben, kommt prompt etwas dazwischen: Es klingelt, der nächste Gast platzt herein, oder die Polizei steht vor der Tür – und fahndet nach einem der Anwesenden.
Offizieller Filmtrailer OmU
Bonmots wie bei screwball comedy
Doch die Atmosphäre bleibt prickelnd. Lippen werden geleckt, Hände verschwinden im Schritt. Der Hengst legt sein mächtiges Glied frei und berichtet von seinem letzten Abenteuer. Er wurde festgenommen und eingesperrt; in seiner Zelle erschien eine aufgedonnerte Kommissarin (Beatrice Dalle als gealterter Schatten ihrer selbst). Als Domina traktierte sie ihn mit einer Peitsche – dann drehte sie den Spieß um und ließ sich demütigen, bis es ihr kam.
Was wie eine schmierige B-movie-Szene klingt, inszeniert Regisseur Yann Gonzalez mit leichter Hand. Wie die ganze erste Filmhälfte: Kultivierte Konversation perlt frivol vor sich hin, Bonmots schwirren umher wie bei einer screwball comedy. Alle Anwesenden nehmen die Leidenschaften und Wünsche der Anderen ernst und ironisieren sie zugleich milde – weil sie nicht so recht zueinander passen. Weswegen auf solchen Partys viele Teilnehmer kaum auf ihre Kosten kommen: außer Reden nichts gewesen.
Bekenntnis-Briefe jeden Monat am Kiosk
Für dieses Dilemma findet Regisseur Gonzalez wunderbar unangestrengte Einstellungen und Dialoge. In Frankreich hat l´échangisme („die Austauscherei“) eine lange Tradition; sie reicht bis ins ancien régime des 18. Jahrhunderts zurück. Libertinage war ein Privileg der Oberschicht, die bei aller Zügellosigkeit auf gute Manieren hielt – und sie in erotischen Romanen ausmalte.
Ihre heutigen Nachfolger sind ein Zeitschriften-Genre, das es in Deutschland nicht gibt: Lettres de confession, also „Bekenntnis-Briefe“. In diesen Monatsmagazinen berichten anonyme Männer und Frauen anschaulich über – wohl erfundene – Details ihres Liebeslebens: wie und mit wem sie es neulich getrieben haben.
Wollust als Fluch nach Frischluftzufuhr
Eine anregende Bettlektüre, die kein Porno ersetzen kann: Explizite Drastik ja, aber bitte mit Stil. Nicht zufällig präsentiert sich im Film der Hengst als verhinderter Dichter, und der Teenager schwärmt wie ein Rimbaud oder die beatniks vom prallen Leben. Dann sind der verführerischen Worte genug gewechselt, es müsste etwas passieren – und Regisseur Gonzalez wechselt abrupt Schauplatz und Tonlage: Die Abendgesellschaft fährt aufs Land.
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Besprechung des Films “Feuchtgebiete” – brillante Verfilmung des Erotik-Bestsellers von Charlotte Roche durch David Wnendt
und hier einen Beitrag über den Film "Ihr werdet Euch noch wundern" - Konversationsdrama unter Liebespaaren von Alain Resnais
und hier eine Kritik des Films “Shame” von Steve McQueen mit Michael Fassbender als Sex-Süchtigem.
Seelenfrieden in Patchwork-Familie
Solche billigen Fantasy-Klischees lösen auch die Komplexe der übrigen Figuren auf, bis alle geläutert von dannen ziehen. Nur der Teenager, der aus seinem Elternhaus weglief, bleibt: Er hat in Ali und Udo eine Ersatzfamilie gefunden. So findet auch dieses Töpfchen sein Deckelchen.
Diese Volte rückwärts zum Seelenfrieden in der postmodernen Patchwork-Familie lässt einen ratlos zurück. Anfangs führt Regisseur Gonzalez vor, wie souverän er die Verlockungen, Mechanismen und Rituale von organisierter Polygamie durchschaut. Dann reduziert er alles auf eine simple Kompensationsthese: Wer seine Lust auslebt, muss irgendetwas Schlimmes verdrängen.
Schmonzette aus Mystery-Mottenkiste
Damit sabotiert Gonzalez die erste Filmhälfte: Sie ist viel zu erfahrungsgesättigt ausgefeilt, als dass ihr mit schlicht gestrickter Alltagsmoral beizukommen wäre. Also bemüht der Regisseur Gruseleffekte aus der Mystery-Mottenkiste, um den zweiten Teil ins Prokrustesbett gutbürgerlicher Wohlanständigkeit zu pressen.
Aus Überzeugung oder Angst vor der eigenen Courage? Schwierig zu sagen. Jedenfalls mündet, was als raffinierte Reflexion über schillernde Facetten des Begehrens begann, in eine sentimentale Schmonzette.