Nur wenige Kunstwerke sind so außergewöhnlich und einmalig, dass jeder Vergleich versagt; sie bilden eine Klasse für sich. So ein Werk ist der japanische Animationsfilm „Belladonna of Sadness“. 1973 wurde er auf der Berlinale gezeigt und verstörte viele durch seine explizite Thematik und radikale Ästhetik; danach ging er unter und kurz darauf das anime-Studio „Mushi Productions“ bankrott. Jüngst wurden alte Kopien digital restauriert; nun ist zu hoffen, dass dieses Meisterwerk endlich sein verdientes Publikum findet.
Info
Belladonna of Sadness
Regie: Eiichi Yamamoto,
93 Min., Japan 1973;
mit: Aiko Nagayama, Tatsuya Nakadai, Katsutaka Ito
Protofeministischer essay von 1862
Der Film hat mit gängigen Erzähl- und Gestaltungsmustern von anime nichts gemein. Die schlichte Fabel beruht auf dem essay „La sorcière“ („Die Hexe“, 1862) von Jules Michelet, dem bedeutendsten liberalen Historiker im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Darin deutet er Hexerei als Ausdruck der Volksweisheit im Mittelalter und eine Form des Widerstands gegen Unterdrückung durch die Obrigkeit. Diesen protofeministischen plot verwandelt der Regisseur in eine der verwegensten Form- und Farbexplosionen, die je auf die Leinwand kamen.
Offizieller Filmtrailer, englische Untertitel
Von Brigitte Bardot bis Addams Family
Heldin Jeanne ist eine rassige Schönheit vom Typ Brigitte Bardot; ihr Geliebter Jean gleicht mit markanten Zügen und Pilzkopf-Frisur dem Frontmann einer beat band. Das arme Paar muss sich für seine Hochzeit die Erlaubnis des grausamen Herrschers erkaufen; er beansprucht für sich das ius primae noctis. Der Tyrann und sein Hofstaat treten als Gruselkabinett zwischen Fürst der Finsternis und Addams Family auf. Dagegen erscheinen seine Schergen und das geknechtete Bauernvolk mal als uniforme Menge, mal als skizzenhafte Schemen.
Noch abwechslungsreicher als die Figuren ist die Bildgestaltung; sie ändert sich alle paar Sekunden. Zart aquarellierte Standbilder wechseln mit detailreichen Panoramen, die wie Rollbilder an der Kamera vorbeiziehen. Ergänzt von klassisch animierten Passagen – und alles geht ständig nahtlos ineinander über.
Wie „Yellow Submarine“ auf speed
Dabei wird so ziemlich jede denkbare Technik eingesetzt: von verwischten Kohle- über präzise Bleistiftzeichnungen bis zu plakativer Acrylmalerei in Pop Art-Manier – als Jeanne einen Drogen-trip erlebt, rasen ihre Halluzinationen wie eine Sequenz aus dem Beatles-Zeichentrickfilm „Yellow Submarine“ auf speed. Man kann sich ausmalen, was die Macher zu ihren irren Bildideen inspirierte.
Die Heldin muss viel erleiden: Vom Fürsten geschändet, wird sie vom Teufel heimgesucht, dem sie sich hingibt, wofür er ihr märchenhafte Kräfte verleiht. Sie steigt zur Respektsperson auf, ihr Geliebter wird zum Dorfvorsteher – nur um in Ungnade zu fallen: Jean wird die Hand abgehackt, Jeanne gefoltert und fast zu Tode gehetzt. Doch als die Pest das Land verheert, flehen alle die Gepeinigte um Hilfe an. Was folgt, ist die vielleicht kühnste Utopie, die je im Kino zu sehen war.
Anschauliche allseitige sexuelle Befreiung
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Miss Hokusai" - japanischer Animationsfilm über das Künstlergenie Hokusai von Keiichi Hara
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und hier einen Beitrag über den Film „The Strange Colour of Your Body’s Tears“ – Experimental-Psychothriller im Brüsseler Jugendstil-Dekor von Hélène Cattet + Bruno Forzani.
Solche Anarchie kann der Fürst nicht dulden: Da sich Jeanne nicht kaufen lässt, endet sie auf dem Scheiterhaufen. Es gibt viel Sex und Gewalt in „Belladonna of Sadness“, doch stets in subtile Symbolik verpackt. Scharen blutroter Fledermäuse stehen für Vergewaltigung; die Pest beginnt als schwarzer Atompilz und verbreitet sich durch schmatzende Zombie-smileys, und Orgasmen sind visuelle Achterbahnfahrten entlang der Körperkonturen. Kongenial begleitet von Musik: hymnischer westcoast pop wie im musical „Hair“, sphärischer space jazz und improvisierter progressive rock.
Mucha, Klimt + Schiele als Paten
Wobei der Film trotz aller Extravaganzen die Pop-Ästhetik zelebriert, die um 1970 in Mode war – und ihrerseits auf Künstler des Symbolismus und Jugendstil zurückgeht. Die Züge von Jeanne könnte Alfons Mucha gestaltet haben; kostbar schimmernde tableaus wirken wie von Gustav Klimt entworfen, und drastische Erotik sieht aus wie von Egon Schiele. Japanischer Eklektizismus at its best: Kaum zu glauben, dass dort ein formvollendetes Gesamtkunstwerk im psychedelic look entstand. Bewusstseinserweiternder kann Kino kaum sein: Wow, what a movie!