
Herr Petzold, Sie sagen, das Kino liebe Gespenster, und geben ihnen immer wieder Raum in Ihren Werken. Warum?
Für Kino-Figuren ist es ein wichtiger Antrieb, nicht zu Gespenstern zu werden. Ein Beispiel: John Fords Western „The Searchers“ („Der schwarze Falke“, 1956) ist ein Film, auf den sich alle einigen können; er zählt zu den zehn besten Filmen aller Zeiten. Da kommen Leute aus dem amerikanischen Bürgerkrieg nach Hause – und keiner braucht sie mehr.
Info
Transit
Regie: Christian Petzold
102 Min., Deutschland/ Frankreich 2018;
mit: Franz Rogowski, Paula Beer, Godehard Giese
US-Tradition des Angequatscht-Werdens
Haben Sie das in der Roman-Vorlage von Anna Seghers gefunden?
Ich habe wohl fünfzehn Jahre keine deutsche Literatur mehr gelesen, weil ich nichts entdeckte, was mich interessiert hätte. Ich las nur angloamerikanische Literatur. Die hat etwas, was der europäischen und besonders der deutschen fehlt: die unfassbare Einsamkeit der Protagonisten. Das kann jeder erfahren, der schon mal in den USA war: Dieser Drang, der Einsamkeit zu entfliehen, indem man jedem, den man trifft, seine Geschichte erzählt.
Die große amerikanische Tradition des Angequatscht-Werdens findet sich bei William Faulkner oder Ernest Hemingway. Im Moment des Erzählens bin ich kein Gespenst: Ein Gespenst ist jemand, der nicht mehr erzählen kann, der sich auflöst. Diese oral history der Amerikaner fand ich in der deutschen Literatur nicht.
Dann gab mir mein Kollege Harun Farocki den Roman „Transit“; Seghers hatte ihn 1941 skizziert und 1944 niedergeschrieben. Ich dachte, das kann nicht wahr sein! Ohne in den USA gewesen zu sein, ahnt da jemand diese oral history, ist aber sprachlich noch in Deutschland. Das Bucht selbst ist transitorisch.
Offizieller Filmtrailer
Neue Identität vom Selbstmörder
Ist es folgerichtig, dass Georg als Hauptfigur von „Transit“ genau das abblockt? Er will sich die Geschichten der anderen Fliehenden nicht anhören.
Er hat das Gelaber der Leute satt, das die mit sich herumtragen. Er will Gegenwart, weder Vergangenheit noch Zukunft. Im Buch ist er ein Charmeur, der mit vielen Frauen schläft; ein Schelm, vielleicht ein Kleinkrimineller oder Tagedieb. Das hat Franz Rogowski in der Hauptrolle auch ein wenig in sich drin: Sein Georg möchte sich nicht verantworten.
Er hat ein Buch des Schriftstellers Weidel gelesen, der Selbstmord beging; so bekommt Georg seine Geschichte und nimmt die an. Diese Geschichte bringt ihm nicht nur eine neue Identität und Geld, sondern auch Verantwortung. Er wird so erwachsen; das gefällt mir an der Figur.
Gehen + Blicken muss man können
Franz Rogowski ist derzeit in vielen Filmen zu sehen. Warum verkörpert er in „Transit“ die Hauptfigur?
Ich sah ihn in „Love Steaks“ von Jakob Lass und sah diese Hände von Rogowski. Das sind ja Hände! Hände, die etwas berühren können, die sinnlich sind. Das ist kein deutsches Fernsehspiel-Gesicht, das ist ein ganzer Körper, das ist ein Tanz. Franz Rogowski und seine Partnerin Paula Beer können blicken und gehen!
Solche klassischen Dinge gehen etwas verloren, wenn man zu lange auf Schauspielschulen bleibt; dann muss man die wieder erlernen. Gehen, Blicken, Greifen und Berühren muss man können. Ich traf die Beiden; sie waren im Gespräch so unheimlich intelligent, anmutig intelligent, dass ich innerhalb weniger Minuten Verträge abschließen wollte.
Vergangenheit ist nicht vergangen
Sie transportieren einen historischen Stoff wie selbstverständlich in die Gegenwart.
Das war schwer zu vermitteln, besonders den Geldgebern. Um diese Handlung, die 1941 in Marseille spielt, ins Jetzt zu bringen, musste ich sie mit Hilfskonstruktionen begreifbar machen. Ich finde, dass eine Stadt immer viele Zeitebenen gleichzeitig hat; in Marseille stehen Gebäude von 1941 und heutige Gebäude nebeneinander. Man geht durch Berlin, sieht ein Haus in Kreuzberg, das gerade von einem Investment-Fonds geräumt wird – und davor liegen Stolpersteine im Pflaster, die über Deportationen von 1940 berichten.
Beides ist im selben Moment präsent. Diese Gleichzeitigkeit war für mich der Grund, diesen Film zu machen, sonst wäre es ein Historien-Film wie ein Museum. Die Leute gehen dann in einen Film wie in eine Ausstellung, und danach lecker Essen. Dann ist die Vergangenheit vergangen. Dabei gilt, wie Faulkner sagte: „Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen.“ Das ist für historische Filme entscheidend.
Vergangenes + Gegenwart kreuzen sich
Die Vermutung liegt nahe, dass der Film politische Absichten verfolgt ist, weil er vergangene Fluchtgeschichten mit heutigen vergleicht. Ist dem so?
Im Gegenteil: Mit Farocki begann ich am Film zu arbeiten, als es die so genannte Willkommenskultur in Deutschland noch nicht gab. Als 2015 Hunderttausende nach Deutschland kamen, war das Drehbuch schon fertig – bis die Silvesternacht in Köln alles veränderte. Erst wollte ich den Film auf Eis legen, um keinen Kommentar zur Weltlage abzugeben. Das ist nicht die Aufgabe von Kino; ich möchte nicht darauf reduziert werden.
Doch ich finde es großartig, wenn im Film kurz die Gegenwart auftaucht. Georg öffnet die Tür zur Wohnung des Jungen aus dem Maghreb – und dort lebt plötzlich eine 28-köpfige Flüchtlingsfamilie, die aber von dem Jungen weiß. Als wüssten die heutigen Flüchtlinge von denen vor 75 Jahren; als wären sie sich begegnet. Solche Augenblicke finde ich toll. Trotzdem will ich damit nicht sagen: Denkt mal darüber nach.
Eine Halle, zwei Fluchtbewegungen
Die Flüchtlinge in den 1940er Jahren wollten raus aus Europa, die heutigen wollen rein. Im Film teilen sie sich einen Transitraum.
Das ist die bildliche Idee. Georg läuft zum Schluss zum Hafen, zum Hangar 67. Da sehen wir diese riesigen Hangarhallen, die gerade leer sind. In genau diesen Hallen waren 1940 Leute, die auf Schiffe nach Amerika wollten; heute werden in diesen Hallen Flüchtlinge untergebracht sind, die über das Mittelmeer gekommen sind. Als wir drehten, standen sie leer. In diesen staubigen Hallen mit ihren Bänken und kaputten Getränkeautomaten und Lampen sind sich beide Fluchtbewegungen begegnet.
Liebes-Flucht aus Lehre im DDR-Kombinat
Haben aus Ihrer Sicht Liebe und Flucht etwas gemeinsam?
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Transit" – Flüchtlings-Drama mit Paula Beer + Franz Rogowski von Christian Petzold
und hier einen Bericht über den Film "Phoenix" – komplexes KZ-Überlebenden-Drama von Christian Petzold
und hier einen Beitrag über den Film "Love Steaks" – rasant realistische Liebesgeschichte von Jakob Lass mit Franz Rogowski
und hier eine Besprechung des Film "Westen" - pachendes Drama über DDR-Flüchtlinge von Christian Schwochow.
Acht Stunden Dunkelheit, Lärm, Hässlichkeit. Fabrikmauern, die aussehen wie Gefängniswände – und jeden Tag gehen die jungen Kerle an der Pförtnerloge vorbei und sehen dort eine junge Frau, die die Stempelkarten bedient. Die junge Frau wird zur Göttin, die alle mit in die Dunkelheit nehmen; sie stellen sich vor, wie es wäre, mit ihr in eine Welt der Innigkeit, Leidenschaft und Liebe zu fliehen.
Diese Imagination rettet den Tag. Auf der Flucht ist Liebe nur schwer zu bewerkstelligen; weil das bedeutet, dass man loyal und verantwortungsbewusst sein muss. Gleichzeitig kann man die Flucht nur überstehen, wenn man sich liebt.
Heimat als nie gesehener Ort
Wenn Heimat durch Heimatlosigkeit abgelöst wird, bleibt dann nur die Flucht?
Zuerst muss man fragen: was für eine Heimat? Das Wort gibt es in anderen Ländern nicht. Im Englischen meint home das Zuhause; also etwas anderes als Heimat. Das Zuhause ist etwas, was wir verloren haben. Bei Ernst Bloch heißt es: „Heimat ist der Ort, an dem wir noch nie gewesen sind“.
Das Zuhause bedeutet: behütet sein und sich auskennen; Menschen um sich herum zu haben, denen man vertrauen kann. Das haben alle Flüchtlinge verloren. Leute, die ein Heimatministerium gründen, wollen, dass der Zaun vor ihrem Reihenhaus nicht überschritten wird. Das ist kein Zuhause, sondern es sind Abwehrgefechte, um niemanden aufs eigene Territorium zu lassen.