Der Blick zurück erzählt stets mehr über die Gegenwart als über die Vergangenheit. Dass über die Frankenstein-Erfinderin Mary Shelley 2018 ein Film gedreht wird, dürfte weniger mit wieder erwachtem Interesse an der Literatur des frühen 19. Jahrhunderts zu tun haben als mit ihrer Biographie. Immerhin gelang es Shelley (1797-1851), sich in einer männerdominierten Welt als eigenständige Schriftstellerin zu behaupten – wenn das kein Beitrag zur Selbstermächtigung ist, der in #MeToo-Zeiten gerade recht kommt!
Info
Mary Shelley
Regie: Haifaa Al Mansour,
120 Min., Großbritannien/ Irland/ Luxemburg 2017;
mit: Elle Fanning, Douglas Booth, Tom Sturridge
Erste Versuche am Mutter-Grab
Mary Wollstonecraft Godwin (Ellen Fanning), so ihr Mädchenname, ging es nicht in erster Linie um den Kampf gegen das Patriarchat, sondern um Literatur – sie wollte möglichst ungestört schreiben. Ruhe dafür findet sie jedoch nur am Grab ihrer Mutter, die selbst Schriftstellerin war, auf einem einsamen Friedhof. Dort beginnt der Film. Die 16-Jährige übt sich in kreativer Introspektion mit Sätzen wie: „In meiner Seele gibt es etwas, das ich nicht verstehe“.
Offizieller Filmtrailer
Schottland-Reise zum Schreiben
Derweil schwebt die Kamera durch die vernebelte Gräberlandschaft, bevor sie der jungen Frau in den verschlammten Moloch folgt, der sich London nennt. Dessen für heutige Augen chaotische Tristesse wird von Al Mansour so authentisch in Szene gesetzt wird, dass es nicht verwundert, wenn sich Mary zuhause in Fantasiewelten flüchtet – ihrer Lieblingsbeschäftigung geht sie in einer Ecke der kleinen düsteren Wohnung nach.
Daran hindert sie jedoch meistens ihre Stiefmutter, die geradezu hexenhaft kratzbürstig daher kommt. Sie hält nichts von Schöngeistigem, im Gegensatz zu ihrem Vater William (Stephen Dillanes); der Buchhändler und Literaturliebhaber ist mit gekonnt gespielter Onkelhaftigkeit die wohl sympathischste Figur. Er schickt seine Tochter zu einem Verwandten nach Schottland, damit sie dort ungestört schreiben kann, und empfiehlt ihr: „Befreie dich von den Worten und Gedanken anderer“.
Dekadenz wie bei „MTV Cribs“
Das nimmt Mary wörtlich; ihre Reise in den fernen Norden wird zum Ausgangspunkt für ihre persönliche Verwandlung. Sie verliebt sich in den rebellischen Dichter Percy Shelley (Douglas Booth), mit dem sie schließlich aus der sozialen Enge der heimischen Verhältnisse auf den Kontinent flieht – deshalb bricht der geliebte Vater mit ihr, doch andererseits löst die Flucht ins Exil bei ihr eine kreativen Schub aus.
Ihr künstlerische Erweckungserlebnis hat Mary bei einer Reise nach Genf zum Exzentriker und romantischen Skandal-Dichter Lord Byron (Tom Sturridge). Dessen Schloss würde mit seiner Dekadenz heutzutage perfekt in die Fernsehshow „MTV Cribs“ passen, in der reiche Popstars mit ihren Anwesen protzen. Ungewöhnlich schlechtes Wetter zwingt die Bewohner, wochenlang im Haus zu bleiben. Zwischen Saufgelagen und berauschten Diskussionen schlägt Byron einen Wettbewerb um die beste Gruselgeschichte vor – dabei kommt Shelley die Idee zu ihrem bahnbrechenden Debütroman „Frankenstein“.
Passend holzschnittartige Gefühle
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Das Mädchen Wadjda" - der erste saudi-arabische Frauen-Spielfilm, 2012 gedreht von Haifaa Al Mansour
und hier eine Besprechung des Films "Confession" - exzellente Klassiker-Verfilmung des Amour-Fou-Romans von Alfred de Musset durch Sylvie Verheyde mit Charlotte Gainsbourg + Pete Doherty
und hier einen Beitrag über den Film "Violette" - Biopic über die von Simone de Beauvoir und Jean Genet geförderte Schrifstellerin Violette Leduc von Martin Provost
und hier einen Bericht über den Film "Ein Leben" - einfühlsam-subtile Verfilmung des Romans von Guy de Maupassant durch Stéphane Brizé.
Hauptdarstellerin Elle Fanning wechselt virtuos zwischen Verzweiflung und Lebenslust. Ihr ist zu verdanken, dass die mit viel Nebel, pompösen Kostümen und lodernden Kerzen ausstaffierte Geschichte nie ins Banale kippt, sondern einfühlsam den enormen Kraftaufwand ihrer Figur begleitet. Sie weiß, dass sie sich als Schriftstellerin doppelt anstrengen muss, um Anerkennung zu finden – und dass Kreativität manchmal bedeutet, Schmerz in Kunst zu verwandeln.
Autorschaft nach 13 Jahren enthüllt
Mary Shelley war bewusst, dass sie am damaligen Kulturbetrieb nur unter Einhaltung gewisser Regeln teilnehmen konnte; daher publizierte sie ihr Werk „Frankenstein“ im März 1818 anonym. Allgemein wurde angenommen, eine derart komplexe Geschichte könne nicht von einer Frau stammen; man vermutete, sie sei von ihrem Mann, der das Vorwort verfasst hatte. Der sofortige Erfolg des Buchs kam ihr zunächst nicht zugute; ebenso wenig die fünf Jahre später uraufgeführte Bühnenfassung. Erst 1831 gab Mary Shelley bekannt, dass sie die Autorin war.