Jim (Harris Dickinson) wirkt wie die Unschuld in Person. Kein Wunder, dass der Kleinstadtjunge erst einmal ausgeraubt wird, als er auf der Suche nach einem freien, wilden Dasein im Londoner Nachtleben landet. Daraufhin nehmen ihn vier charmante junge Männer unter ihre Fittiche – und haben passenderweise zudem einen Plan, wie er zu Geld kommen kann.
Info
Postcards from London
Regie: Steve McLean,
90 Min., Großbritannien 2018
mit: Harris Dickinson, Jonah Hauer-King, Alessandro Cimadamore
Stendhal-Syndrom seit 1979 bekannt
Dummerweise stellt sich heraus, dass er an einer seltenen Krankheit leidet: Das psychosomatische „Stendhal-Syndrom“ wurde 1979 von einer italienischen Psychologin diagnostiziert. Es überfiel den namensgebenden französischen Schriftsteller 1816 beim Besuch der Franziskanerkirche Santa Croce; nach kultureller Reizüberflutung löst das Syndrom Panikattacken, Wahrnehmungsstörungen und Wahnzustände aus.
Offizieller Filmtrailer OmU
Etwas schlichtes modernes Märchen
Beim Anblick großer Kunstwerke überkommen nun auch den Protagonisten Ohnmachtsanfälle und Halluzinationen. Für Jims Karriere als raconteur ist das natürlich schlecht. Doch flugs taucht in diesem etwas schlichten modernen Märchen jemand auf, der eine zündende Idee hat, wie Jim durch seine Störung noch mehr verdienen könne als durch seinen Job als Luxusstricher. Er muss sich entschieden, was ihm wirklich wichtig ist.
Es ist Steve McLeans erster Langfilm seit 24 Jahren. In „Postcards from America“ hatte er 1994 die Memoiren des Künstlers und Aids-Aktivisten David Wojnarowicz verfilmt, der zwei Jahre zuvor an den Folgen der Immunschwäche-Krankheit gestorben war. Diesmal schrieb McLean, der ansonsten als Multimedia-Künstler arbeitet, das Drehbuch selbst.
Nostalgische Hommage an Sündenpfuhl
Das erste Drittel seiner schwierig zu kategorisierenden Regiearbeit lässt sich durchaus viel versprechend an. McLean blickt mit ganz und gar nicht moralinsaurer Leichtigkeit auf das Thema Prostitution. Seine theaterhaft wirkenden Kulissen sind toll ausgeleuchtet: dunkle Gassen, neonbeleuchtete Winkel und Bars, billige Hotelzimmer. So entsteht eine fantastisch-surreale Version von Soho – als nostalgisch anmutende Hommage an einen Stadtteil, von dessen früheren Charakter als Sündenpfuhl im heutzutage durchgentrifizierten London nicht mehr viel übrig ist.
Dem Film bekommt es besser, wenn er spielerisch bleibt und sich nicht allzu ernst nimmt. Solche Momente werden aber leider seltener, je mehr Jims Coming-Of-Age-Geschichte in den Hintergrund rückt – und die Kunst in den Vordergrund. Dabei geht es kaum um Sex, der arg keusch in Szene gesetzt wird, oder das durchaus interessante Spannungsfeld zwischen Erotik und Kunst.
Verbeugungen nach allen Seiten
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Happy Prince" - geistreiches Sittenbild vom Lebensende des Dichters Oscar Wilde von und mit Rupert Everett
und hier eine Besprechung des Films "God's Own Country" - herb-romantisches Homosexuellen-Drama von Francis Lee
und hier einen Bericht über den Film „Sag nicht wer du bist!“ – schwuler Psychothriller in der kanadischen Provinz von Xavier Dolan
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Francis Bacon - Unsichtbare Räume" - hervorragende Werkschau des britischen Gegenwarts-Künstlers in der Staatsgalerie Stuttgart.
Kurzweilig sind dagegen Szenen, in denen Jim tatsächlich von großer Kunst überwältigt wird, in Ohnmacht fällt und sich in das betrachtete Szenario hinein imaginiert. Plötzlich steht er etwa als Modell in Caravaggios Atelier und verärgert den herrischen Maler durch seine neugierige Plapperei so sehr, dass der ihn zum Duell herausfordert. Solche hübsch versponnenen Momente sind jedoch rar. Zu oft will der Film Gewichtiges reflektieren, wirkt dabei aber nur prätentiös und blutleer.
Allzu ausführlich ausbuchstabiert
Der Film kreist um die Frage, was künstlerische Konzepte in der menschlichen Imagination freisetzen können, entwickelt aber kaum eigene Ideen. Das Wenige, was Regisseur McLean zu sagen hat, wird allzu ausführlich ausbuchstabiert. Mehr ergebnisoffene Gedankenspielerei hätten seinem Versuch eines filmischen Metakommentars gut getan.