
Es ist paradox: Menschen sterben – zumindest in Industriegesellschaften – meistens da, wo sie auch geboren wurden. An einem unpersönlichen, funktionalen Ort: im Krankenhaus. Dort spielen sich öfter solche Szenen ab: Ein Mann liegt nachts im Krankenbett. Seine Augen sind weit aufgerissen, die Unterlippe ist nach außen gestülpt, das rechte Augenlid hängt runter. Er schreit, windet sich, reißt Schläuche aus seiner Nase heraus. Ein Gerät fiept. Krankenpflegerinnen eilen herbei und geben dem Mann eine Spritze; er verstummt
Info
Alles ist gut gegangen
Regie: François Ozon,
114 Min., Frankreich 2022;
mit: Sophie Marceau, André Dussollier, Géraldine Pailhas, Charlotte Rampling
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Termin für den Tod
Seine Töchter Emmanuèle (Sophie Marceau) und Pascale (Géraldine Pailhas) besuchen ihn regelmäßig. Die ältere Emmanuèle ist täglich bei ihrem Vater. Sie füttert ihn, unterhält ihn und verbringt ganze Nächte auf dem Stuhl vor seinem Bett. Eines Tages bittet André sie darum, „es zu beenden“. Schockiert verweigert sich Emmanuèle zunächst seinem Wunsch, doch ihr Vater beharrt darauf. Also kontaktiert sie einen Schweizer Verein für Sterbehilfe. Dessen Bedingungen sind eindeutig: Der Sterbewillige muss selbst nach Bern kommen, um den Gifttrunk eigenhändig zu sich zu nehmen. Die Tochter vereinbart einen Termin; die weitere Handlung gleicht einem Countdown vor dem Tag X.
Offizieller Filmtrailer
Ein letztes Aufblühen
Dem französischen Regisseur gelingt es, das traurige Thema weitgehend unsentimental darzustellen. Sein Protagonist ist dabei in seiner herrischen Art nicht gerade sympathisch. So etwa befiehlt er seinen Töchtern, ihn auf keinen Fall neben seinen „schrecklichen Schwiegereltern“ zu begraben. Wenn bisweilen doch Pathos die Oberhand zu gewinnen droht – etwa durch arg viel melancholische Klaviermusik von Brahms – retten harte Schnitte den Film davor, in Gefühligkeit abzugleiten. Beispielsweise weinen die Schwestern gemeinsam in einem Restaurant. Kurz darauf sind blutige Szenen eines Splatterfilms zu sehen, den sich Emmanuèle auf dem heimischen Sofa anschaut.
Angesichts seines festgelegten Todesdatums lebt André noch einmal richtig auf. So bittet er seine Töchter um Besuche seines Lieblingsrestaurants oder eines Konzerts seines Enkels. Doch seine neue Lebenslust ist in Wirklichkeit eine Todessehnsucht. Der Kranke genießt bewusst die Dinge zum letzten Mal, statt krampfhaft am Leben festzuhalten. In diesem Sinne ist der Film auch ein Plädoyer gegen die Verpflichtung der Schulmedizin, Leben um jeden Preis zu erhalten. Er legt nahe, dass Sterbehilfe auch einen Rückgewinn von Autonomie bedeutet.
Kranke als Kunden
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Sommer 85" - tragische Romanze über erste Jugendliebe von François Ozon
und hier eine Besprechung des Films "Frantz" - subtiles Kammerspiel über Hinterbliebene des Ersten Weltkriegs von François Ozon
und hier einen Beitrag über den Film "Am Ende ein Fest" - warmherzige Sterbehilfe-Tragikomödie aus Israel von Sharon Maymon + Tal Granit
und hier einen Bericht über den Film "Halt auf freier Strecke" - drastisch-realistisches Porträt eines unheilbar Krebskranken von Andreas Dresen.
Der französische Regisseur, der manchmal mit einer gewissen Künstlichkeit wie in „Swimming Pool“ (2003) oder bittersüßer Romantik wie in „Sommer 85“ (2020) inszeniert, setzt in seinem jüngsten Werk auf nüchternen Realismus. Sowohl bei der Bildgestaltung als auch dem schnörkellos authentischen Spiel seiner Darsteller – allen voran Schauspiel-Veteran André Dussollier und Sophie Marceau, die beide seit mehr als 40 Jahren vor der Kamera stehen.
Was ist ein guter Tod?
Die zeitlosen Fragen, die der Regisseur stellt, legen den Finger in eine offene Wunde unserer Gesellschaft: Wie lässt sich gut sterben, wenn man den Tod tabuisiert? Ozons Film zeichnet ein ambivalentes Bild; sein Titel ist gut gewählt. Denn am Ende bleibt unklar, was eigentlich gut gegangen ist: Das Leben? Das Sterben? Oder beides zusammen?