Julian Radlmaier

Blutsauger

Algensammler (Kyung-Taek Lie) und Octavia (Lilith Stangenberg). Foto: © Grandfilm
(Kinostart: 12.5.) Ausgebeutete bis aufs Blut ausquetschen: Regisseur Julian Radlmaier nimmt die Metapher von Kapitalisten als Vampiren wörtlich – er macht daraus eine bizarre Agitprop-Sittenkomödie zwischen Marx, Goldenen Zwanzigern und stalinistischer Verfolgung.

Ein sehr eigenwilliges Triptychon: In drei Kapiteln mit unterschiedlichen Erzählern und Temperamenten entfaltet Regisseur Julian Radlmaier seine Geschichte. Das erste setzt ein mit dem Sowjetbürger Ljowuschka (Alexandre Koberidze), einem Schauspieler aus Faulheit. An Filmdrehs liebt er vor allem die langen Umbaupausen, während derer man so herrlich die Gedanken schweifen lassen kann.

 

Info

 

Blutsauger

 

Regie: Julian Radlmaier,

125 Min., Deutschland 2021;

mit: Alexandre Koberidze, Lilith Stangenberg, Corinna Harfouch

 

Weitere Informationen zum Film

 

Durch eine verrückte Verkettung von Umständen ist er vom sowjetischen Groß-Regisseur Sergej Eisenstein als Trotzki-Darsteller für das Revolutions-Epos „Oktober“ (1928) engagiert worden. Da jedoch Trotzki während der Dreharbeiten bei Stalin in Ungnade fällt, wird seine Rolle aus dem Film herausgeschnitten. Auch Darsteller Ljowuschka wird gesellschaftlich geächtet; so beschließt er, sein Glück in Hollywood zu suchen.

 

Fabrikantin begehrt Lügenbaron

 

Auf der Reise dorthin strandet er in einem mondänen deutschen Badeort und gerät ins Visier der so exzentrischen wie schönen Fabrikbesitzerin Octavia (Lilith Stangenberg). Von den Umständen erzwungen, wird der russische Emigrant erst zum Lügenbaron und dann – als Künstler-Opfer stalinistischer Verfolgung – zum Objekt ihrer Begierde.

Offizieller Filmtrailer


 

Utopien + plakative Komik

 

Damit konkurriert er unwillentlich mit Octavias ungeschicktem Diener Jakob (Alexander Herbst), der ebenfalls in seine Arbeitgeberin verliebt ist. Da in der Gegend Vampire ihr Unwesen treiben, entstehen weitere Konflikte, die Anlass zu Argwohn und Schuldzuweisungen geben. Dennoch gelingt es dem Trio, gemeinsam einige Filmszenen zu drehen, die Ljowuschkas Talent unter Beweis stellen sollen.

 

In kunstvoll arrangierten Einstellungen verhandeln die Protagonisten Utopien von einem erfüllten Leben; doch schon im nächsten Moment folgen Szenen über Auswirkungen von Hierarchien und Vorurteilen, deren plakative Komik an frühe Woody-Allen-Filme erinnert, etwa „Die letzte Nacht des Boris Gruschenko“ von 1975. Dennoch werden die blutsaugende Ausbeuterin Octavia, ihr „persönlicher Assistent“ Jakob und der künstlerische Opportunist Ljowuschka als ausgesprochen ambivalente Charaktere gezeichnet.

 

1920er-Jahre-Szenerie im Heute

 

Wie in seinem letzten Film „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“ (2017) erzeugt Regisseur Julian Radlmaier in dieser „marxistischen Vampirkomödie“ Spannung durch verschiedene Verfremdungstechniken, formal wie inhaltlich. Angefangen mit der Ausgangsidee, die Marxsche Metapher von Kapitalisten als Blutsaugern wörtlich zu nehmen und daraus einen Genre-Mix aus politischem Revolutions- und Vampirfilm zu machen.

 

Zudem siedelt Radlmaier die Handlung, die in den späten 1920er Jahren spielt, in einer gegenwärtigen Szenerie an. Ein derzeit populärer Kunstgriff, den bereits Christian Petzold für sein Migranten-Drama „Transit“ (2018) und Dominik Graf in „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ (2021) benutzten, was der Wirkung jedoch keinen Abbruch tut.

 

Energische Profis + statische Laien

 

Überdies besetzt der Regisseur seinen Film erstmals neben Laiendarstellern auch mit Schauspielern der ersten Liga wie Lilith Stangenberg, Corinna Harfouch und Andreas Döhler. Ihnen gibt Radlmaier die Rollen der Ausbeuter und Vampire, denen es durch kalkuliertes Auftreten leicht fällt, den Gang der Dinge in ihrem Sinne zu lenken.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes" – grotesk ironische Sittenkomödie von Julian Radlmaier

 

und hier eine Besprechung des Films "Der junge Karl Marx" – hervorragendes Biopic über den Philosophen + Kapitalismuskritiker von Raoul Peck mit August Diehl

 

und hier einen Beitrag über den Film "The Death of Stalin" – brillante schwarzhumorige Komödie über Machtkämpfe im Spätstalinismus von Armando Iannucci mit Steve Buscemi

 

und hier einen Bericht über den Film "Eisenstein in Guanajuato" - sinnlich-burleskes Biopic über das Coming Out des Sowjet-Regisseurs von Peter Greenaway.

 

Ästhetische Wirkung verleiht dem Film vor allem das Aufeinanderprallen verschiedener Welten. Während die Profi-Mimen Energie und Esprit verströmen, sind die Gesichter der Laiendarsteller häufig in statischen Nahaufnahmen zu sehen, in denen sie ihre Texte deutlich weniger geschliffen sprechen. Die Polarität von Gegensätzen findet sich bei den Hauptfiguren wieder.

 

Marx-Leser + Bourgeoisie = Faschismus

 

Octavia, die vampirhafte Kapitalistin, kann sich aufgrund ihres Status’ und der Bewunderung, die ihr entgegengebracht wird, einen Hang zum Subversiven leisten; sie flirtet kokett mit sozialistischen Idealen. Dagegen führt Ljowuschkas tollpatschiges Bemühen, aus allem mit geringstem Aufwand den größten Nutzen fürs eigene Fortkommen zu ziehen, am Ende zu unentschuldbarem Verrat. Auch die Solidarität des Marx-Lektürezirkels kippt angesichts der Vampir-Bedrohung bald ins Völkische um.

 

Ihre Konfrontation mit der dauerfeiernden Bourgeoisie, die stets nach der nächsten Lustbarkeit sucht, führt erst zu einer Pseudo-Allianz gegen äußere Feinde und dann direkt in den Faschismus. Der fordert sogleich erste Opfer; kräftig befördert von Ljowuschkas Filmkunst, die zuvor für ihre befreiende Wirkung gefeiert worden war. So strotzt „Blutsauger“ vor Fabulierlust und Humor, reflektiert aber auch ernsthaft über die Möglichkeiten von Film.